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Dann aber setzten wir uns um den kleinen Tisch vor meinem monumentalen Diwan. Girardi reichte die Rolle Schnitzler, der im Fauteuil Girardi gegenüber Platz genommen hatte. Und es begann etwas sehr Schönes, Seltenes. Denn gleich, als Girardi den ersten Satz sagte: ›Frau Blümel – der Flieder fängt schon an zu blühn‹ –, schwebte ein so inniger, sanfter, ergebener Herzenston auf, dass Schnitzler zusammenzuckend den Atem anhielt. Für die Gestalt des alten Mannes, der durch bittere Erfahrung weise geworden, seinem einzigen Kind das Glück der Liebe – und wäre es auch eine illegale Liebe – nicht stören will, fand Girardi eine Einheit von Ton, Ausdruck, Geste … Fand eine Musik der Seele, die tief ins Herz griff. Als Christine fortstürzt – nach seinem Schrei ›Sie kommt nicht wieder‹, schwieg Girardi erschöpft.

      Schnitzler erhob sich. Dann griff er Girardis Hand und sagte: »Hätten Sie damals einen alten Weyring gespielt – ich wäre vielleicht einen anderen Weg gegangen.« Und er konnte nicht weitersprechen.

      Girardi mochte erraten, was in ihm vorging, denn er beugte sich über Schnitzlers Hand, als wolle er sie küssen, und verließ wortlos das Zimmer.

      GRÜNDUNG DER SECESSION. OTTO WAGNER, DER GROSSE STÄDTEBAUER

       Wien 1896

      Er war eine echt österreichische Figur: Epikureer, Optimist, Revolutionär, Skeptiker, Weltmann, Diplomat, gleichzeitig ein Draufgänger bis zur Grobheit. Und – er war ein Prophet. Otto Wagner1 verkündete den Baustil des zwanzigsten Jahrhunderts.

      Einer alten Wiener Patrizierfamilie entsprossen, war er in Haltung, Sprache, Humor ein echter Wiener. Sein Lebensweg bis über die Hälfte schien eben und sorglos. Sein Aufstieg war sogar sensationell. Als Mitglied des Künstlerhauses, dessen Gründer die reichsten Bürger der Stadt waren, flogen ihm bedeutende Aufträge zu. Otto Wagner benutzte damals noch das Alphabet jahrhundertelanger Tradition. Nur wandte er deren Formen bereits auf eigene Art an. Er lauschte nach innen, um den architektonischen Rhythmus den zweckbedingten Forderungen des jeweiligen Bauwerks anzupassen. Er war es, der das Wort »Fassadenlüge« geprägt hat.

      Das große Bankgebäude2, das er gegen 1890 in Wien errichtete, trug bereits den Stempel des Neuerers. Denn hier erhob Otto Wagner zum ersten Mal imponierend gebieterisch den Kassenraum zum Zentrum des Baus. Diese Halle wurde zum Herzen des mächtigen Betriebs so sinnvoll gestaltet, dass dieses Schema in der ganzen Welt Nachahmung fand.

      Noch ahnten Otto Wagners Auftraggeber nicht, dass aus der Hülle des akademischen Stilarchitekten bald der revolutionäre Baukünstler den Weg ins Freie finden würde.

      Als sich Otto Wagner der Jugend anschloss, die das Künstlerhaus verließ, um Österreich den verlorenen Rang seiner künstlerischen Tradition wiederzuerringen, begann sein Martyrium. Er ertrug Enttäuschung, Beschimpfung und Verfolgung, denn er war seiner Natur nach imstande, sie Schlag für Schlag zu quittieren. Bald drangen Otto Wagners Lehren von den neuen, aus dem Material entstandenen Formen ins Ausland. Er stand in lebhaftestem Kontakt mit amerikanischen Architekten, viele wurden seine Schüler, er Ehrenmitglied aller amerikanischen Architektenvereine.

      »Hier Otto Wagner … Ich habe unlängst einen Artikel von Ihnen gelesen und dabei entdeckt, dass Wien noch in Europa liegt und nicht in Botokudien. Darf ich mich vorstellen? Als den abgefallenen, geächteten, einstigen Liebling des Künstlerhauses? Gnädige Frau, ich erlaube mir, Sie im Namen der Secessionisten, die eben eine Gegenvereinigung gründen, anzurufen. Heute Abend gehen wir alle zum Heurigen nach Grinzing. Es wäre uns eine hohe Ehre, Sie dort begrüßen zu dürfen. Kann ich Sie mit einem feschen Fiaker abholen?«

      Ende Mai. Der Fiaker im karierten Rock, den Stößer, jenen schmalkrempigen Zylinder, schief aufgesetzt, meint: »Herr von Wagner, soll ich nicht einen kleinen Umweg machen? Die Donau entlang. Heute ist sie wirklich blitzblau.«

      »An der blauen Donau«, sagt mir Wagner, »geht es wieder einmal schön zu. Die Kunstanalphabeten, die unumschränkt in Wien herrschen, sind fuchsteufelswild. Unser Austritt aus dem Künstlerhaus zieht bereits die erwarteten Folgen nach sich. Gestern hat das Unterrichtsministerium den Staatsauftrag annulliert, den es mir gegeben hatte. Und auch die Privataufträge habe ich verloren.

      Aber da ist nichts zu machen. Ich werfe ihnen alles hin, diesen Verbrechern am Geist. Eins können sie mir nicht nehmen, mein Lehramt. In der Akademie herrsche ich über die Jugend, der will ich die großen Begriffe einer ewigen Tradition einbrennen. Dass nichts verabscheuungswürdiger ist als die verfluchte Stiläfferei. Diese Eunuchenarchitekten, diese impotenten Stilstehler haben die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts zu einer zerschlissenen Maskenleihanstalt gemacht. Die Jugend wird diesem beschämenden Zustand ein Ende machen.«

      »Aber vielleicht entzieht man Ihnen auch Ihr Lehramt?«

      »Das könnte man unter einem autokratischen Regime. Aber Kaiser Franz Joseph – ich bin deshalb Anhänger der Monarchie – hält sich starr und anständig an die Konstitution. Selbst wenn ihm etwas so unsympathisch ist wie der Begriff ›Moderne Kunst‹. Er versteht natürlich gar nichts davon, hat keine Ahnung. Schließlich wurde unter seiner Herrschaft Wien für ewig verschandelt. Die Ringstraße ist eine Musterkarte von Stilkopien, eine lächerlicher als die andere. Weil im Mittelalter jedes Rathaus selbstverständlich gotisch war, muss das 1880 gebaute, das ganz andere Aufgaben hat, gotisch lügen. Die Universität, die Museen – Renaissance! Versteht sich, von wegen der humanistischen Epoche. Das Parlament, wie könnte es wagen, nicht griechisch-römisch zu protzen?«

      »Immerhin ist das Rathaus harmonisch in den Proportionen.«

      »Sie reden wie der Blinde von der Farbe. Verzeihen Sie, wenn ich ein wenig ungeduldig bin. Ein Rathaus soll doch keine Attrappe sein! Es ist das Zentrum eines Riesenbetriebs, soll einem Heer von Beamten die besten Arbeitsmöglichkeiten bieten. Aber in den Büros des Wiener Rathauses muss schon am Vormittag das elektrische Licht brennen, denn bei der Finsternis, die dort herrscht, kann kein Mensch schreiben. Und die Universität? Da wird der Herr Gemahl Bescheid wissen.«

      »Ja, der Betrieb in den Lehr- und Prüfungssälen ist kaum aufrechtzuerhalten, weil fünf bis sechs Säle nur einen einzigen Eingang haben. Während der Professor in einem Saal prüft, müssen andere Professoren und Studenten ununterbrochen durchrennen.«

      »Na also. Außen hui, innen pfui. Die einzigen großen Architekten jener Zeit, Van der Nüll3 und Siccardsburg4, haben wohl versucht, die Anlage der Ringstraße, dieses dummen Ringelspiels, das nirgends anfängt und nirgends hinführt, zu verhindern. Ihr großartiges Stadterweiterungsprojekt, sternartige Boulevards von den Basteien, die so in ihrer Herrlichkeit bestehen geblieben wären, ausgehen zu lassen, dieses Projekt haben die Pharisäer zu Fall gebracht. Dafür durften die beiden die Oper bauen. Sie wussten bereits, dass der Zweck, das heißt die innere Bestimmung, stets die äußeren Akzente beherrschen muss. Ihre Lösung des unvergleichlich harmonischen Theatersaals, des monumentalen und doch so einfach vornehmen Treppenhauses, der prunkvollen Loggia ist pyramidal. Kein Opernhaus der Welt besitzt eine so himmlische Akustik. Die berühmten Geigen der Philharmoniker singen nirgends so süß wie hier. Zum Dank dafür hat die in Wien stets losgelassene Meute der Kunstverhinderer die Wiener Oper derart in Grund und Boden verschimpft, dass Van der Nüll vor Kränkung der Schlag getroffen hat – und Siccardsburg –, der hat sich aufgehängt.«

      »Und doch finden Sie den Mut, ein solches Kreuz auf sich zu nehmen?«

      »Ein paar harte Jahre – aber dann werden wir Sieger sein. Ich werde halt weniger verdienen. Man wird sich einschränken. Meine acht Kinder fressen am Sonntag jedes ein ganzes Gansl auf, werden eben nur ein halbes fressen … Die Otto-Wagner-Schule muss eine Armee von modernen Architekten ausbilden. Vorläufig ist schon der ›Klub der Sieben‹ marschbereit. Olbrich5, Hoffmann6, Moser7, Roller8 und so weiter … Heute noch ungeläufige Namen, aber jeder Einzelne wird von sich reden machen … Und ich? Ich will der herrlichen Karlskirche – der Karlsplatz ist wüst wie ein ungarisches Dorf – den ihr gebührenden Rahmen geben. Das neue Museum, das darf niemand dort hinbauen als ich, und müsste ich daran

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