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im weiten Sinn des Wortes – liegen in der Nationalbibliothek begraben. Ein Friedhof dehnt sich dort, unheimlicher, tragischer als jedes Beinhaus. Es ist der Friedhof des Nichtgewordenen, des verbrecherisch Verhinderten, der ungeborenen Meisterwerke. In jedem Land ist ein solcher Friedhof zu finden, doch nirgends in so verheerendem Ausmaß wie in Wien, jener Stadt, die immer wieder Genies gebar und sie dann erschlug.

      Anno dazumal ähnelte ein echter Heuriger in Grinzing wenig den späteren, aufgeputzten, als sie Mode wurden und die elegante Welt dieser Wiener Spezialität ihr Interesse zuwandte. Der an einem ärmlichen Giebel befestigte Buschen besagt, dass hier ein Heuriger ausgeschenkt wird. Hof oder Gärtchen – ungehobelte Bänke, grün gestrichene Tische. Speisen gab es nicht. Man musste einen Imbiss mitbringen. Nur der heurige Saft, der so zu Kopf steigt, wurde ausgeschenkt. Auch die Musikanten, die bei keinem Heurigen fehlen durften, waren noch echt. Irgendwelche armen Teufel, die aber mit dem jedem Wiener angeborenen Instinkt für Rhythmus und Wohllaut spielten, sangen, was gerade populär war.

      »Da schaut her, wen ich euch mitgebracht habe.«

      »Die B. Z., die an uns glaubt. Sie lebe hoch!« Und Gustav Klimt9 leert sein Glas.

      Klimt – der Anführer, der Wegweiser, das von allen anerkannte Genie. Er, der keinen Vorgänger gehabt hat und keinen Nachfolger haben wird. Ein Einmaliger, Einsamer, aufgetaucht aus dem Urgrund eines Stamms, eines Volks. Primitiv und raffiniert, einfach und kompliziert, immer aber beseelt. So wurde der junge Maler Gustav Klimt zur Galionsfigur der revolutionären Kunstbewegung, die weit über Österreichs Grenzen hinaus in ganz Europa ihre Fahne aufpflanzen konnte. Ein mächtiger Schädel mit bereits etwas schütterem Haarwuchs, in dessen Mitte sich einer Insel gleich eine dichte Locke wölbt. Die schöne, eigenartige Erscheinung des jungen Künstlers ist bereits populär. Das Volk nennt ihn den heiligen Petrus. Tatsächlich sieht Klimt aus wie ein Apostel.

      »Wagner, was hast du wieder angestellt … Dein verflixtes Temperament ist schon wieder mit dir durchgegangen …«, sagt der Kunstkritiker Hevesi10, der sich im Gegensatz zu den Beckmessern den jungen Secessionisten angeschlossen hat. »Heute greift dich die ›Neue Freie Presse‹ an. Du sollst gesagt haben, man müsse den Stephansdom demolieren. Solche überspitzten Thesen werden dann gegen euch ausgespielt.«

      Wagner: »Wenn du jeden verlogenen Dreck glaubst – ich habe gesagt, man soll den Stephansplatz kassieren, weil er den herrlichen Dom durch seine ordinären Zinshäuser, die man sogenannt gotisch zu verzieren gewagt hat, entehrt. Ein Skandal, dass ich es nötig habe, mich vor euch zu rechtfertigen. Ihr seid eben noch keine richtigen Secessionisten. Neugeborene seid ihr, noch nicht zimmerrein … Mit einer einzigen Nation bin ich wirklich in Kontakt. Mit den Amerikanern. Die haben in großartiger Dynamik und mit imponierendem Verständnis und Material den Wolkenkratzer entstehen lassen. Auch ihre Hafenbauten, ihre Hangars und Silos sind Meisterwerke. Ebenso großartige Kulturdenkmäler wie das Parthenon … Ja, ja – ihr lacht mich aus, weil euch die akademische Gipslehre noch in den Gliedern steckt. Bitte? Haben die Griechen die Eisentraverse gekannt? Beton? Die Maschine? Die Amerikaner sind bis in die Fingerspitzen Menschen ihrer Zeit. Deshalb haben sie eine Architektur geschaffen, Baudenkmäler eigener Art – ewig wie die Kathedralen.«

      »Schon Goethe war deiner Ansicht«, sagt Klimt lachend.

      »Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, der alte – hast keine verfallenen Schlösser – und keine Basalte. Dich stört nicht im Innern – zu lebendiger Zeit – unnützes Erinnern – und vergeblicher Streit.«

      »Recht hast du, Wagner«, sagt Kolo Moser, ein blasser, hochaufgeschossener junger Mann, dessen große, träumerische braune Augen einen eigenen Zauber ausüben, als seien sie Bewahrer geheim aufgestapelter Schätze. »Aber glaubst du, dass wir dich nur neue Häuser bauen lassen? Ah, nein; Revision aller Unwerte! – Auch die Möbel sind verrottete Erzeugnisse. Wiener Tischler, einmal die besten der Welt, wissen die Seele der Hölzer nicht mehr zu behandeln. Die edle glatte Fläche, die schöne Maserung, wie sie die Biedermeierzeit noch kannte, existiert nicht mehr. Alles wird gedrechselt, angeklebt. Eine Kredenz schaut aus wie ein gotischer Beichtstuhl, Sessel sollen durchaus so aussehen, als kämen sie aus dem Dogenpalast. Gaslüster imitieren Petroleumlampen. Die elektrische Kraft maskiert man als Kerze, und die Gebrauchsgegenstände! Einen Krug habe ich gesehen, um den fährt als Dekor eine Eisenbahn. Eine Uhr als Eulenkopf, ein Thermometer als Alpenstock, scheußlich, dieser Klamsch.«

      Hevesi: »Was ist das eigentlich, was Sie Klamsch nennen?«

      Die Antwort kommt von Josef Hoffmann. Er hat ein ruhevolles Antlitz, stammt aus Mähren, dessen geheimnisvoller schöpferischer Kraft Österreichs Kunstgenius so viel verdankt. Er ist der Begründer, das ausstrahlende Element der großen Renaissance des Kunsthandwerks, seiner Formen, der Technik, der Qualität – man kann sagen: seiner Ehre. Dreißig Jahre nach der im Überschwang jugendlichen Enthusiasmus’ erfolgten Gründung der »Wiener Werkstätte«11 erbaute Hoffmann 1925 in Paris für die internationale Kunsthandwerksausstellung den österreichischen Pavillon, eine Schatzkammer der berühmt gewordenen Wiener Werkstätte. Seit diesem triumphalen Erfolg hat sich die Bezeichnung Hoffmann-Stil eingebürgert.

      »Er meint damit das«, antwortete Hoffmann, »was der Mensch im Allgemeinen braucht, wenn er in einer anständigen Umgebung leben will. Jeder Gebrauchsgegenstand, wie er jetzt erzeugt wird, unsachlich und unehrlich, beleidigt nicht nur unser Auge, auch unsere Hand, unseren logischen Sinn. Da wollen wir Ordnung machen, nur wird es sehr lange dauern. Erst heißt es Arbeiter erziehen, die wieder Meister ihres Handwerks sein müssen wie einst. Die Tradition des Qualitätshandwerks ist abgerissen.«

      Klimt: »Ihr müsst eine Werkstätte gründen, müsst Muster, Beispiele herstellen für Glas, Porzellan, Leder, Silber, Textilien, Schmuck, Tischlerei. Aber vor allem müsst ihr selber lernen. Alle müssen wir noch lernen.«

      Wagner: »Bravo. Ich beantrage die Gründung einer solchen Besserungsanstalt. Nur eine Frage: Wer wird das Geld hergeben?«

      Der Fabrikant Wärndorfer: »Ich stelle mein Vermögen zur Verfügung.«

      Fritz Wärndorfer ist tatsächlich der enthusiastische Begründer der Wiener Werkstätte geworden und hat diesem ideellen Unternehmen sein Vermögen geopfert.

      Hevesi: »Ich weiß, Sie sind ein fanatischer Anhänger dieser Kunstrevolution, aber was Sie vorhaben, ist sehr riskant. Ehe sich die Wiener an die Moderne gewöhnen, ist sie bereits eine Antiquität.«

      Wärndorfer: »Vielleicht verliere ich mein Vermögen. Immer noch anständiger, als es in Monte Carlo oder am Turf zu verspielen.«

      Klimt: »Wir dürfen das Haus nicht beim Dach anfangen. Vor allem muss die Secession ihr Heim haben, erst wird gebaut, dann eingerichtet. Also, Olbrich – dazu sind wir doch heute hier beisammen. Heraus mit deinem Plan.«

      Olbrich, kaum fünfundzwanzigjährig, wirkt abgeklärter als sein Lehrer Otto Wagner. Er ist der Aristokrat unter den Revolutionären. Sein blasses, nachdenkliches Gesicht, seine elegante Gestalt, sein zurückhaltendes Wesen ließen eher auf einen Diplomaten schließen als auf einen Künstler. Er gibt wohl den Kollegen den genauen Ton an wie eine Stimmgabel, nach der sich alle Orchestermitglieder richten, aber damit ist seine Wiener Mission beendet. Bald wird er in Deutschland eine große Rolle spielen.

      Olbrich breitet schweigend seine Pläne aus.

      Aufgeregtes Durcheinander der Kollegen.

      »Aber das ist doch kein Grundriss!«

      »Könnte eine Markthalle sein.«

      »Wo sind die Wände?«

      Olbrich, ruhig, bestimmt: »Wände gibt es nicht und gibt es doch. Verstellbare Wände, die wir auswechseln können. Wände, die nur aus Holzrahmen bestehen und aus gespannter Leinwand. Die Wiener Secession schafft auf diese Art den neuen Ausstellungsstil für ganz Europa.«

      Moser, begeistert: »Großartig. Du hast das Problem gelöst. Unser Programm ist ja: Fenster aufreißen, frische Luft hereinlassen in unsere übel riechende Kunstwelt. Den Wienern wollen wir vor allem zeigen, was die Franzosen geschaffen haben; aber auch die Engländer, die Skandinavier, die Schweizer.

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