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Österreich intim. Berta Zuckerkandl
Читать онлайн.Название Österreich intim
Год выпуска 0
isbn 9783902862303
Автор произведения Berta Zuckerkandl
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Genug getratscht. | Deine Berta |
MAX BURCKHARD
1890–1898
In seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit« nennt Egon Friedell1 die Atonie des geistigen und künstlerischen Schaffens, die dem Schlaf gleicht, »Inkubationszeit« und weist nach, dass scheinbare Sterilität die Zeit neuen Keimens ist. Selten hat sich dies so überzeugend herausgestellt wie im letzten Jahrzehnt des neunzehnten und im ersten des zwanzigsten Jahrhunderts in Österreich.
Taumel der Erlebnisse, der schöpferischen Energie. Ein vulkanischer Ausbruch von Genie und Talent. Was half da der erbitterte Widerstand jener Menschen, die neues Wollen mit Anarchie verwechselten? Sie konnten wohl aufhalten, aber sie haben nichts verhindert. Alles, mit wenigen Ausnahmen, ist geworden, wie eine simultane Vision den Stil unserer Epoche, ihr Antlitz, modelliert hat. Der Rückblick zeigt, dass Kunst, Literatur, Musik, Philosophie und Wissenschaft in Österreich einen Block bilden. Geheimnisvolle Zusammenhänge durchfließen Sprache, Farben, Formen, Töne und Weltbekennen. In der imponierend einheitlichen europäischen Erneuerung, die gegen 1860 von Frankreich ausging, spielte Österreich ab 1890 eine führende Rolle.
In bewusstem oder unbewusstem Gegensatz zu Deutschland, wo der Jugendstil hemmungslos tobte und der Naturalismus Literatur und Kunst beherrschte, entwickelte sich in Österreich ein neues Stilbewusstsein, gleich von Beginn charakterisiert durch strenge Harmonie und Abkehr vom Naturalismus. Der breite Strom neuen Fühlens und Erschauens hat in Wien seinen Ursprung Hier wird ein aristokratischer Stil lebendig, lyrisch, beschwingt, vergeistigt, fantasiegesegnet: die Welt in Traum gehüllt.
Vorerst aber galt es, Festungen zu schleifen. Das K. K. Burgtheater zum Beispiel war zuzeiten die berühmteste Bühne deutscher Sprache gewesen. Plötzlich aber schien die Menschheit alle Herrlichkeiten und Wahrheiten, die Kunst und Kultur Epoche um Epoche gestapelt hatten, vergessen zu haben. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts trat einer der vielen Sprösslinge Satans seine Herrschaft an: der Kitsch- und Talmi-Teufel. Auf allen Gebieten wurde gefälscht und gelogen. So verfiel auch das Burgtheater. Denn auf die Dauer kann eine bedeutende nationale Bühne ihrer Mission nicht gerecht werden, wenn sie zur seichten Unterhaltung absinkt, zu einem akademischen, höfischen, offiziell regierten Theater.
Hermann Bahr ist am Telefon.
»Wieder einmal hat sich meine Theorie bewahrheitet«, sagte er. »Die weisesten, die wichtigsten Entschließungen sind oft keineswegs die Folge logischer Erwägung, sondern kolossaler Missverständnisse.«
»Ich bin schrecklich neugierig.«
»Das Burgtheater hat seit gestern Abend einen neuen Direktor. Das Burgtheater, dieser Hort der Rückständigkeit, wird laut Entschließung des Oberhofmeisters einem Hofrat des Justizministeriums übergeben. Auf diese sichere Weise soll es vor den revolutionären, verdächtigen Lehren geschützt werden, die der Kritiker Hermann Bahr sich zu verbreiten erfrecht.«
»Und da jubeln Sie?«
»Geduld. Die Wahl fiel auf den jungen Hofrat2 Burckhard. Der Oberhofmeister hatte lange vergebens Umschau nach dem geeigneten Mann gehalten, den und jenen Rat gehört. Endlich fiel einem Sektionschef etwas ein. ›Da ist‹, sagte er, ›im Justizministerim ein fleißiger, tüchtiger Jurist. Der hat, das weiß ich von meiner Tochter, irgendetwas gedichtet. So ein Epos. Ich glaube, die Nibelungen kommen darin vor – ein altes, berühmtes Geschlecht. Der Mann scheint literarische Neigungen zu haben!‹ … Na, darauf wurde Max Burckhard sofort ernannt.«
»Warum nicht, wenn er ein Dichter ist?«
»Keine Spur. Das Epos ist eine fade Jugendsünde, war aber fabelhaft zu gebrauchen, denn jetzt kommt die Pointe: Dieser Burckhard ist ein entschlossener Fortschrittler. Ich kenne ihn. Stundenlang erzählte er mir, obwohl ahnungslos, dass er je eine solche Berufung erhalten könnte, wie eine moderne Bühne geleitet werden müsste. Hätten der Oberhofmeister und seine Satelliten das gehört – ich glaube, es hätte sie der Schlag getroffen.«
»Jetzt werden sie es ja hören, wenn Sie darüber schreiben.«
»Gott behüte! Man muss sie hereinfallen lassen, diese Bonzen. Und auch die allmächtigen Schauspieler. Die sind die Gefährlichsten. Lieber möcht’ ich meinen Kopf in einen Löwenkäfig stecken als in die Garderobe von so einem Burgtheaterprominenten … Aber Burckhard, der freut sich darauf!«
Max Burckhard war damals ungefähr 35 Jahre alt, mittelgroß, gut gewachsen, nachlässig elegant; ein fein geschnittenes Gesicht, klare, kecke Augen. Freundlich, doch kurz angebunden, sehr empfänglich für Humor. Von Frauen geliebt, Frauen umschwärmend. Er liebte auch seine Bibliothek, sein Segelschiff und seine Justamententscheidungen. Nicht umsonst allerdings hatte er seit seiner Jugend die Atmosphäre des Bürokratismus eingeatmet. Er vermochte glatt und undurchsichtig zu erscheinen. So versammelte er Schauspieler und Personal um sich und hielt eine Antrittsrede, vorsichtig, farblos und doch irgendwie beunruhigend. Die Göttlichen, die bisher über jeden Direktor geherrscht hatten, wurden unsicher; sie witterten etwas Neues, wussten aber nicht, was da auf sie zukam.
Hermann Bahr erwartet seinen Freund Burckhard bei mir. Burckhard kommt verspätet, erhitzt, aber siegreich.
»Ich habe es durchgesetzt. Aber nur, weil ich meine Demission angeboten habe. ›Wie? Acht Tage nach Ihrer Ernennung?‹, sagte händeringend der Oberhofmeister, ›schon eine Direktionskrise? Skandal ohnegleichen. Was würde sich Majestät denken? Ich wäre blamiert!‹ – ›Verzeihen Exzellenz, ich muss an das Wohl und Wehe des Theaters denken, das Sie mir anvertraut haben. Es steht schlimm um dieses Institut. Haben Exzellenz den Artikel gelesen, den – Gott sei Dank noch vor meiner Ernennung – ein junger Kritiker, Felix Salten3, geschrieben hat? Der Artikel beginnt mit den Worten: Heute ist Erstaufführung. Ich frage einen Schutzmann: Bitte, können Sie mir sagen, wo das Burgtheater ist? Dieser pyramidale Satz enthält alles, was sich über Ihre verfallene Bühne sagen lässt. Blutiger Hohn! Ein Peitschenhieb! Niemand weiß also überhaupt mehr, wo das Burgtheater vegetiert … Exzellenz, für das Repertoire, das ich von Grund auf neu aufbauen will, für eine Renaissance der Klassiker ist das Engagement von Friedrich Mitterwurzer entscheidend. Er ist der größte Schauspieler, den Europa besitzt …‹ – ›Um Himmels willen‹, hat die trostlose Exzellenz geantwortet, ›wie wollen Sie das bewerkstelligen? Dazu wären doch Neubesetzungen notwendig! Bedenken Sie, alteingesessene Rechte auf Rollen, die man durch Jahrzehnte innegehabt hat, können Sie nicht …‹ – ›Ich kann es, Exzellenz. Nur dürfen Sie mir nicht in den Rücken fallen. Weisen Sie jeden Versuch zurück, Ihre Intervention anzurufen, und vor allem erbitte ich mir absolutes Stillschweigen, auch Ihren Beamten gegenüber, falls mir dieses Engagement bewilligt wird. Erst wenn ich die Unterschrift von Exzellenz in der Tasche habe, lasse ich die Bombe platzen.‹ Damit war es vollbracht. Ich werde Ibsen spielen. Ist es nicht unerhört, dass man Wien erst jetzt Ibsen aufzwingen muss?«
»Mitterwurzer wird mit Ihnen durch dick und dünn gehen. Als junges Mädchen war ich mit ihm befreundet und kenne ihn genau. Schon vor Jahren holte er sich Anregungen bei Dostojewski, Tolstoi, Zola. Er ist mehr als ein großer Schauspieler. Er ist ein Denker. Er ist ein Genie. Natürlich ist er schwer zu behandeln, wenn er sich nicht verstanden fühlt, launenhaft, unberechenbar. Aber er scheut niemals harte Probenarbeit. Einmal hat er mir gesagt: ›Wenn ich Regisseur wäre, würde ich kein Stück unter dreimonatiger Probenarbeit herausbringen. Ich würde so lange proben, bis sich die Schauspieler aneinander gewöhnt haben, bis sie den Text innehaben, dass er die Darstellung nicht mehr stört. Eigentlich müsste man so weit kommen, ohne Souffleur zu spielen. Der Souffleurkasten ist der Sarg jeder echten Leistung.‹
Einmal gab er im Stadttheater einen Musiker in einem französischen Stück. Mitterwurzer ist musikalisch und spielt leidenschaftlich gern Klavier. Das Stück wurde zu rasch herausgebracht, die Schauspielerin, mit der