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es nicht. Aber ich bin natürlich andererseits bedrückt und nachdenklich. Ich habe dem Elend in die Augen gesehen.

      Wie traurig, so seinen Lebensabend verbringen zu müssen!

      Umso mehr sollten wir Gesunden jeden Tag unser Leben genießen, und umso mehr sollte es mir möglich sein, gemeinsam mit meiner Familie eine schöne Weihnachtszeit zu verbringen. Uns geht es ja dermaßen gut. Wie schnell man das vergisst.

      Zu Hause leuchtet mir an der Hauswand der rostige Weihnachtsstern entgegen. Jedes fünfte Lämpchen ist kaputt. Die Tage des rostigen Sternenmonsters sind gezählt. Ich lächle vor mich hin, als ich die Tür zu unserem gemütlichen Heim aufschließe.

      Alles wird gut. Jetzt glaube ich daran. Der erste Schritt ist getan.

      6

      Am ersten Advent hat Lilly morgens ein Tennisturnier. Längst will sie uns nicht mehr immer im Publikum haben. Dabei mochte ich diese Ausflüge und habe gern mitgefiebert, mitgelitten, angefeuert. Ich war ganz die strahlend-stolze Mutter, wenn Lilly ihre Gegnerinnen vom Platz gefegt hat, und notfalls habe ich sie auch gern getröstet.

      Lilly hat heute auch ohne mich gut gespielt, wenn auch nicht gewonnen. Sie kann damit leben. Ich sowieso.

      Am Nachmittag sind beide Mädchen weg. John Grisham liest in der Schule. Ich ginge auch gern hin, ehrlich. Lieber als zu Irene. Wir lesen seit Jahren alle gern Grisham-Krimis. Es hätte mich interessiert, was er über Weihnachten schreibt und denkt.

      Nur noch 19 Tage bis zum Weltuntergang.

      Irene, meine Schwiegermutter, ist völlig überrascht, als wir ohne die Zwillinge zum Adventskaffee kommen.

      »Aber sie haben es dir gesagt«, wage ich einzuwenden.

      »Ja, das schon. Ich dachte, ihr würdet sie noch zur Vernunft bringen«, antwortet Irene und schaut mich vorwurfsvoll an.

      Asche, Asche, Asche

      Wir verleben dann doch einen recht angenehmen Nachmittag. Draußen ist es dunkel und nass. Wir trinken Kaffee und essen frisch gebackene Plätzchen. Auch ich genieße Irenes Kreationen, denn sie kann hervorragend backen. Ich greife vor allem bei den Zimtsternen zu. Die sollen bekanntlich das Gemüt aufhellen. Wie viele muss man wohl essen, damit die Wirkung einsetzt? Heute bräuchte ich dazu den Zimt wohl pur und intravenös.

      Zwei riesige Dosen mit aufgemalten Engeln darf ich später mit hinunternehmen, gefüllt mit lauter verschiedenen Weihnachtsplätzchen. Amelie und Lilly werden sich freuen.

      »Wenn du dich schon nicht aufraffen kannst, selber zu backen«, meint Irene leicht giftig, als sie mir die Dosen übereicht.

      Warum sollte ich, wo sie es doch viel besser kann?

      Wir hören gemeinsam alte Weihnachtsschallplatten, die alle ein wenig kratzen. Wir schauen uns Fotos aus halb zerfallenen Alben an und tauschen Erinnerungen aus. Wir geben uns Mühe, sind nett zueinander, versuchen, einen gemütlichen Nachmittag miteinander zu verbringen.

      Ich bin manchmal wirklich traurig über mein gestörtes Verhältnis zu Irene und umgekehrt. Schließlich habe ich selber keine Eltern mehr. Gern würde ich also eine Schwiegermutter in mein Herz schließen. Aber mit Irene werde ich wohl nie mehr warm. Ich habe bereits so viele Angriffe auf ihren Seelenpanzer unternommen: zwecklos. Ich weiß nicht einmal, ob es wirklich an mir liegt. Vielleicht mag sie mich sogar, nach all den Jahren, irgendwie, tief in ihrem Inneren, da, wo sie selber nicht mehr hinschaut. Selbst Paul hat ja keine besonders tiefe, liebevolle Beziehung zu ihr. Er kennt es nicht anders. Ich schon. Ich hatte eine warmherzige, fröhliche Mutter. Dazu einen verständnisvollen, intelligenten Vater. Wir hatten ein harmonisches Familienleben. Ich habe mich zwar viel mit meiner Schwester Corinne gestritten. Grundlos. Aber das hatte nichts zu bedeuten.

      Eine glückliche Familie ist wie eine Insel, auf die man immer flüchten kann, wenn man auf dem Meer von einem Sturm überrascht wird. Und dieses Gefühl macht stark und unbesiegbar. Genau dieses Gefühl, diese Gewissheit wollte ich an meine Kinder weitergeben. Aber dazu gehört eben eine intakte Partnerschaft, ein unbelastetes Elternhaus.

      Ich glaube, daran muss ich etwas arbeiten.

      »Hast du mich für die Silvestergala angemeldet?«, frage ich meinen Ehemann am Abend.

      Er brummelt etwas vor sich hin und verschanzt sich hinter der Sonntagszeitung.

      »Hast du?«, bleibe ich hartnäckig am Ball.

      Ich will ein Zeichen setzen. Wir werden gemeinsam in das neue Jahr tanzen, wie in früheren Jahren, und uns nicht immer weiter voneinander entfernen. Das sind meine Vorsätze.

      Mein Mann organisiert jedes Jahr für seine Bank eine große, öffentliche Wohltätigkeits-Silvestergala. Früher war ich immer dabei. In den letzten Jahren nicht mehr. Einmal war ich krank, dann war etwas mit den Kindern, später blieb ich einfach daheim … Das soll sich ändern.

      »Wenn es dir so wichtig ist, werde ich es also tun. Ich dachte, es läge dir nicht viel daran.«

      Von wegen!

      »Mir ist es wichtig«, betone ich.

      Sicherheitshalber. Auf mein hartnäckiges Nachfragen hin erzählt er mir sogar, was er für den Silvesterball schon gebucht hat. Schließlich ist das Fest ja sein Kind, und er ist an jeder Entscheidung beteiligt.

      »Die Bruno-Bosshard-Band wird spielen. Eine richtig gute, vielseitige Tanzkapelle. Sie wird dir gefallen. Während des Essens spielt ein Pianist Klassik und Jazz. Das ist endlich mal eine gute Lösung. Sonst gab es doch immer Ärger, weil die Band zu laut spiele. Als Show-Act haben wir die Betty-Bossi-Singers bekommen. Das sind sechs witzige Sängerinnen mit viel komödiantischem Talent. In einer Bar werden wir erstmals einen Karaoke-Wettbewerb durchführen.«

      Paul hat seine Zeitung vergessen, und wir reden und diskutieren. Dabei lehne ich mich an ihn.

      »Ich werde mir ein schönes Kleid kaufen«, erkläre ich. »Deine Kreditkarte wird glühen.«

      Paul lacht nur und legt seinen Arm um mich. Geld war bei uns noch nie ein Streitthema.

      Hoffentlich vergeht ihm das Lachen nicht. Mir selber wird es am Montag schon etwas mulmig. Ich bin bei Corinne in Luzern. Meine ältere Schwester führt hier eine kleine, erfolgreiche Boutique. Ich besuche sie mindestens einmal im Monat. Es sind jeweils teure Besuche, denn Corinne weiß, was mir steht und was mir gefällt, und legt oft speziell für mich etwas zur Seite. Ihre Kleider sind atemberaubend, die Preisschilder auch. Aber diesmal will ich in erster Linie schön sein, koste es, was es wolle.

      Corinne selber ist immer schön. Das ist Teil ihres Jobs, aber sie wirkt auch in Jeans und Turnschuhen immer beneidenswert grazil und elegant. Das hat man – oder eben nicht. Heute trägt sie ein einfaches, sackartiges, mausgraues Strickkleid, das manche Frau völlig verunstalten würde; sie sieht darin hinreißend aus.

      »Ich habe etwas für dich!«, sagt sie sofort, kaum dass sie mich begrüßt hat.

      Sie schubst mich in die Umkleidekabine: »Zieh dich schon mal aus.«

      Sie ist ganz aufgeregt, und ich hoffe nur, dass sich ihre Aufregung lohnt. Ich möchte sie nicht enttäuschen, aber ich will das perfekte Kleid finden, eines ohne Bling-Bling und Schnickschnack, das trotzdem umwerfend ist. Aber eigentlich sollte sie mich ja kennen.

      »Hier!«, sagt sie, und innerlich schmettert sie wohl gerade einen Tusch, als sie mir das Kleid in die Kabine reicht.

      »Oh!«

      Jetzt werde auch ich aufgeregt. Mein Herz klopft laut, als ich die nachtblaue Robe überziehe. Corinne hilft mir mit dem Reißverschluss, zupft und zieht und richtet da und dort.

      »Dreh dich mal!«, befiehlt sie.

      Ich drehe mich vor der Spiegelwand im Laden, und ich weiß: Dieses Kleid muss es sein. Es besteht aus einem Korsagenoberteil und einem langen Rock aus feinem Tüll. Dazu gehört ein Chiffonschal, der meine Oberarme verhüllt. Das Kleid passt wie angegossen

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