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Joachim Ringelnatz

      Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft – keinen größeren Reichtum, keine größere Freude.

       Epikur von Samos

      Dies ist auch ein Buch über Freundschaft, daher widme ich

      es den wichtigsten Freundinnen meines Lebens:

      Christa Keller (†), Sindy Hedinger-Kenel,

      Lucia Schmid-Camenzind, Gaby Hartmann-Nobs,

      Tina Bolfing und vor allem Cily Müller

      und Rita Betschart-Wiget.

      Nichts ist wertvoller als eine gute Freundin.

      Danke.

      1

      Ich liebe unser gemütliches Frühstück am Sonntagmorgen. Paul holt frische Brötchen und die Sonntagszeitung. Die Zwillinge, Amelie und Lilly, decken unterdessen den Tisch. Der Kaffee duftet durchs Haus. Wir sitzen gemeinsam am stämmigen Eichentisch in der Küche, reden über Gott und die Welt und hören einander zu. Wir albern herum und genießen es, zusammen zu sein. Das sind wichtige Momente in unserem sonst oft chaotischen Familienleben. In diesen Momenten bin ich von ganzem Herzen Familienmensch und liebe meine Töchter und meinen Ehemann besonders.

      Heute kommen wir auf Weihnachten zu sprechen.

      »Oma möchte morgen das Haus dekorieren. Ich komme etwas früher von der Arbeit«, erklärt mein Mann.

      Die Mädchen verdrehen die Augen. Ich kann sie verstehen. Jedes Jahr muss Paul unter Lebensgefahr einen alten, verrosteten Weihnachtsstern außen unter dem Dach anbringen. Man könnte längst etwas Neues kaufen, das sich viel leichter installieren ließe. Aber diesen Stern hat Pauls verstorbener Vater vor vielen Jahren eigenhändig in seiner Werkstatt zusammengebastelt. Und meine Schwiegermutter Irene besteht darauf, dass er Jahr für Jahr ihr Haus ziert. So wie sie überhaupt alles Jahr für Jahr genau gleich haben will.

      The same procedure as every year

      »Der Stern geht ja noch«, meint Lilly. »Aber die Engel!«

      Sie zieht eine Grimasse.

      Unser Treppenhaus wird vor dem ersten Advent mit Engeln dekoriert. Sie hängen und stehen und kleben und liegen überall. Ach ja, und einige fliegen sogar.

      »Manchmal denke ich beim Heimkommen, ich sei irrtümlich schon im Himmel gelandet«, schimpft Lilly weiter.

      »Du kommst sowieso nicht in den Himmel«, bemerkt Amelie trocken, worauf ihr Lilly den Ellenbogen in die Seite rammt.

      »He, ihr beiden!«, mahnt Paul. »Das gehört nun mal zu Weihnachten, und ihr wisst: Das macht eure Oma auch für euch, weil sie euch lieb hat.«

      Lilly steckt sich demonstrativ den Finger in den Hals, was Paul gerade nicht sieht, weil er sich Leberwurst aus dem Kühlschrank holt.

      »Weihnachten ist doof«, sagt sie.

      »Genau«, bestätigt Amelie.

      Weihnachten ist doof?

      Ich hör wohl nicht recht!

      Jedes Jahr quäle ich mich durch dieses Fest, das ganz und gar unter Irenes Regie steht. Und wenn ich nur ein einziges Mal eine winzig kleine Änderung im Programm anrege, wird mir erklärt, dass ich doch wenigstens der Kinder wegen meine eigenen Wünsche zurückstecken könne.

      »Die Kinder lieben das Fest so, wie es ist«, erklärt Irene jedes Mal voller Überzeugung. Damit nimmt sie mir Jahr für Jahr den Wind aus den Segeln. Denn ich liebe meine Zwillinge und will ihnen sicher nicht Weihnachten verderben.

      Und nun die knallharte Offenbarung: Weihnachten ist doof!

      »Jetzt reichts aber! Wie seid ihr denn heute drauf? Warum wird hier plötzlich alles infrage gestellt?«

      Paul ereifert sich und schickt auch mir einen strafenden Blick.

      »Was passt euch denn nicht an Weihnachten? Wir haben es doch jedes Jahr richtig schön. Wir singen und spielen zusammen, bekommen ein gutes Essen …«

      »… ja, eine fette Gans. Pfui Teufel. Immer dasselbe Menü«, wirft die sportliche Lilly trotzig ein. »Ich kann so fettes Zeug nicht vertragen. Aber das interessiert natürlich keinen.«

      Die begeisterte Tennisspielerin achtet tatsächlich immer sehr auf eine gesunde Ernährung. Durchaus denkbar, dass ihr Magen revoltiert, wenn er plötzlich massive Speisen verdauen muss.

      Paul schimpft weiter: »Es geht da nicht nur um euch. Es geht auch um Traditionen. Onkel Leo kommt ja auch immer zum Fest aus dem Altersheim. Ein bisschen Respekt vor dem Alter würde euch gut bekommen.«

      Jetzt verdrehen beide Mädchen die Augen.

      »Respekt vor unserem Großonkel?«

      Lilly hat mit einem Mal einen roten Kopf, so sehr regt sie sich auf: »Unser Großonkel Leo … der ist immer so aufdringlich! Er ist widerlich.«

      Ich bin sprachlos.

      »Ach, kommt! Er ist ein alter Mann. Da übertreibt ihr sicher ganz ordentlich«, lacht Paul nur.

      Ich habe inzwischen meine Sprache wiedergefunden: »Was macht er?«

      »Er kommt uns viel zu nahe, und wenn er an uns vorbeigeht, streift er uns unauffällig. Das ist bestimmt kein Zufall oder alberne Neckerei, dafür macht er es viel zu oft und außerdem bei uns beiden. Manchmal gibt er uns einen bescheuerten Klaps auf den Hintern. So etwas muss sich doch heute nicht einmal mehr die Serviertochter in einer zwielichtigen Kneipe gefallen lassen. Nein, er ist wirklich ein Widerling«, schimpft nun auch Amelie.

      »Auch wenn er mir übers Haar streicht, ekelt mich das an. Wir sind doch nicht seine Puppen«, legt Lilly nach.

      »Das will ich gar nicht hören. Sicher steckt keinerlei böse Absicht dahinter«, erklärt Paul bestimmt und schaut finster in die Runde. Da habe ich aber auch ein Wort mitzureden: »Paul! Wie kannst du nur! Du meinst also, sie sollen sich nicht so zieren? Er ist ja mit ihnen verwandt, also ist ein kleiner Übergriff zu verschmerzen? Was ist denn das für eine Einstellung? Und was für Signale gibst du unseren Töchtern für ihr Leben?«

      Ich verschlucke mich fast an meinem Kaffee vor Empörung.

      »Amelie und Lilly, eines ist klar: Keiner kommt euch zu nahe, wenn ihr das nicht wollt. Sollte er das dieses Jahr wieder tun, dann wehrt euch so laut, dass wir das alle hören. Das müsst ihr mir versprechen!«

      Die Mädchen nicken und schauen mich dankbar an. Ich schäme mich: Für diesen alten Lüstling, der sich Onkel Leo nennt, für meinen Mann, der alles nicht schlimm findet, und für mich, weil ich nie etwas bemerkt habe.

      Fröhliche Weihnachten!

      Es ist noch nicht einmal Advent, und ich habe schon genug davon.

      »Denkt einfach daran: Nächsten Sonntag ist der erste Advent, und wir sind wie immer am Nachmittag bei Oma oben«, sagt Paul schließlich nur.

      Er öffnet die Zeitung und meldet sich damit vom Gespräch ab, verstimmt und eingeschnappt.

      »Nein!« Lilly gibt noch immer keine Ruhe.

      »Diesmal geht das wirklich nicht!«, wird sie von Amelie unterstützt.

      Oh, wenn die Zwillinge zusammenhalten, sind sie eine nahezu uneinnehmbare Festung.

      Paul lässt genervt die Zeitung sinken.

      Er bemüht sich, nicht zu schreien, aber das macht seinen Tonfall fast noch bedrohlicher: »Ihr seid jetzt sechzehn Jahre alt, und bisher haben wir das jedes Jahr so gemacht. Da möchte ich doch gern wissen, warum es plötzlich nicht mehr geht? Bloß zwei Stunden, nicht mehr! So viel sollte euch die Familie wert sein. Die Adventssonntage gehören der Familie. Basta.«

      Lilly

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