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er erzählt uns, wie er schreibt. Wir können mit ihm reden und ihm Fragen stellen«, sprudelt es aus ihr hervor.

      »Der Krimiautor?«, fragt Paul entsetzt.

      »Wir lesen gerade ›Das Fest‹, einen älteren Roman von Grisham, eine Weihnachtsgeschichte. Dort beschreibt er ein Ehepaar, das einfach mal beschließt, Weihnachten ausfallen zu lassen. Ein wirklich cooles Buch mit schrägen Einfällen.«

      »Ja, ja. Den Film dazu kenne ich. Wieso muss der am ersten Advent in die Schule kommen? Seit wann geht ihr freiwillig an einem Sonntag zur Schule?«

      Paul versteht die Welt nicht mehr.

      Lilly wehrt sich: »Es ist ein Wunder, dass er überhaupt gerade in der Schweiz ist und dass er uns tatsächlich die Ehre gibt. Da kann man doch nicht über Termine diskutieren!«

      Tja, meine Mädchen werden langsam groß und unbequem. Sie haben eine eigene Meinung, ein eigenes Leben, einen eigenen Terminkalender.

      Höchste Zeit, dass ich es ihnen gleichtue.

      »Da werden Papa und ich halt allein bei Irene Kaffee trinken. Solange ich nicht euren Anteil an Plätzchen und Keksen in mich reinstopfen muss …«, erkläre ich und lege dabei meinem Ehemann beruhigend die Hand auf die Schultern.

      Er brummelt etwas in sich hinein, und die Mädchen verabschieden sich schnell, aus Angst vor weiteren Diskussionen. Amelie beginnt, Geige zu üben, und Lilly knallt kurz darauf ihre Zimmertür zu, genervt von den endlosen Tonleitern.

      Paul sitzt ratlos da, und er könnte einem fast ein ganz klein wenig leidtun. Aber es ist höchste Zeit, dass er diese Lektion lernt: Nichts ist in Stein gemeißelt. Nur weil etwas ein paar Jahre so und nicht anders war, muss es nicht ewig genau gleich weitergehen. Die Mädchen werden langsam erwachsen und haben ihr eigenes Leben.

      Ich habe mir für das neue Jahr auch einige Veränderungen vorgenommen. Paul muss aufpassen, dass er den Zug nicht verpasst, wenn er der Einzige ist, der sich nicht vom Fleck bewegt.

      2

      Seit wann stehe ich eigentlich so auf Kriegsfuß mit dem Weihnachtsfest?

      Als Kind habe ich Weihnachten geliebt. Ich habe nur allerschönste Erinnerungen daran. Auch als die Kinder noch klein waren und wir in einer Altbauwohnung gehaust haben, waren die Festtage immer eine glückliche, aufregende Zeit. Wir feierten unkonventionell und fantasievoll. Da gab es auch mal eine Schneeballschlacht statt der Weihnachtsgeschichte oder ein Spaghetti-Essen statt eines aufwendigen Festmenüs.

      Aber dann ist Pauls Vater gestorben, und Irene hat sich großzügig bereit erklärt, in ihrem Haus am Dorfrand von Schwyz die kleine Dachwohnung zu beziehen und uns den großen unteren Teil zu überlassen. Jetzt wohnen wir in einer imposanten Villa mit Garten – und mit Irene. Seit wir hier leben, führt Irene über die Weihnachtsfeste Regie. Sie kann in ihrer Wohnung keine Gäste mehr bewirten, dafür ist diese zu klein. Also findet das Fest bei uns statt – aber nach Irenes Spielregeln, nämlich so, wie es immer schon war. Vor dem ersten Advent wird das Haus geschmückt. An den Adventsnachmittagen wird bei ihr oben musiziert und Kaffee getrunken. Am Heiligen Abend wird in unserer Wohnung groß gefeiert, mit wechselnden Gästen aus der Verwandtschaft. Onkel Leo ist immer dabei. Es gibt eine Gans mit Kartoffelstock, dazu Rotkraut und zur Nachspeise, wenn keiner mehr auch nur ansatzweise Appetit hat: Schwarzwäldertorte. Danach sind alle satt und müde. Es folgt eine Stunde Musizieren vor dem Christbaum. Im Anschluss liest Irene die Weihnachtsgeschichte vor. Schließlich gibt es Geschenke.

      Ach so: der Christbaum!

      Sein Schmuck besteht aus Erbstücken von Irenes Familie. Wehe, es fällt etwas herunter! Antike, wertvolle Kugeln. Nur hat leider jede eine andere Farbe. Dazu kitschige Engel mit abblätternder Goldverzierung, dazwischen Mengen von Lametta, dass man fast davon blind werden könnte. Die Glitzerstreifen werden mehrere Jahre verwendet, versteht sich …

      Um 23 Uhr gehen alle gemeinsam in die Mitternachtsmesse. Die Wohnung sieht zu diesem Zeitpunkt aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Egal. Danach gehen alle schlafen, außer mir. Ich räume auf und putze, weil am 25., so will es der Familienbrauch, ein Weihnachtsbrunch stattfindet. Selbstverständlich habe ich versucht, da und dort das Programm und die Vorschriften ein wenig zu lockern. Aber ich habe immer auf Granit gebissen. Paul meinte, seine Mutter sei nun schon alt, da müssten wir einfach Rücksicht nehmen auf ihre Gewohnheiten. Traditionen seien doch etwas Schönes. Außerdem hätten wir ja auch diese großartige Wohnung von Irene bekommen.

      Die Mädchen haben bisher nie aufgemuckt. Ich dachte tatsächlich, sie hätten Weihnachten gern, genauso und immer wieder gleich.

      »Wie kommst du darauf?«, meint Amelie, als ich sie am Nachmittag darauf anspreche. »Das Fest ist nervtötend. Ihr seid alle immer dermaßen gereizt, dass wir vom ersten Advent an das Gefühl haben, wir dürften nur noch auf Zehenspitzen gehen. Nie streitet ihr euch so oft wie vor Weihnachten.«

      Stimmt das?

      Wahrscheinlich schon.

      Ich bin tief betroffen.

      Asche auf mein Haupt.

      Aber Amelie plappert munter weiter: »In der Schule lesen wir ja gerade Weihnachtsgeschichten aller Art. Den Roman von Grisham, den solltest du dir auch mal reinziehen. Oder die Geschichte von Böll über die Frau, die einfach jeden Tag Weihnachten feiern wollte und sonst Schreikrämpfe kriegte.« Amelie erzählt, dass sie in der Schule viele Diskussionen über Weihnachten geführt hätten. Fächerübergreifend, wie sie betont. »Stell dir vor: Wir haben darüber abgestimmt, wer von uns das Weihnachtsfest abschaffen möchte. Das Fest blieb nur knapp von der Abschaffung verschont, und als wir genauer nachgefragt haben, wollten viele bloß nicht auf die Geschenke verzichten.«

      Weihnachten abschaffen?

      Manchmal sind die Gespräche, die im Schulunterricht geführt werden, wirklich gewöhnungsbedürftig. Während wir früher Geschenke gebastelt und bei Kerzenlicht andächtig gefühlvollen Geschichten gelauscht haben, diskutieren die Kinder heute über die Abschaffung von Weihnachten. Hätte das früher ein Lehrer gewagt, hätten die Eltern geschlossen protestierend bei ihm auf der Matte gestanden, der Gemeindepfarrer allen voran.

      Allerdings fand ich es mutig und unkonventionell, als die Schüler im Oktober gemeinsam im Unterricht einen Brief an unsere Großhändler schrieben: Niemand wolle bereits im Herbst Weihnachtsgebäck kaufen, erklärten sie, mit all ihren Unterschriften. Vorausgegangen war ein Statement der Migros, der frühe Verkaufsstart von Weihnachtsgebäck entspreche einem Kundenwunsch. Ha! Das fand sogar ich lächerlich. Wer geht denn allen Ernstes im Oktober in den Supermarkt und bedauert es, wenn es noch keine Mailänderli und Zimtsterne zu kaufen gibt?

      Und ich gebs zu: Ich war wirklich entsetzt, als bereits Mitte Oktober rund um unser Einkaufszentrum die Bäume ihre Blätter lassen mussten, um die Äste mit Lichterketten einfassen zu können. Und als ich Anfang November beim abendlichen Einkauf auf dem Parkplatz von bunten Leuchtscheinwerfern erfasst wurde und fast nicht mehr aus der Parklücke herauskam, weil ich derart geblendet wurde, war ich auch verärgert.

      Aber ist das Schulstoff?

      Andererseits ist es natürlich gut, wenn sich die Schüler nicht nur mit abstraktem Schulwissen abfüllen lassen, sondern sich auch mit dem Leben auseinandersetzen. Sie sollen ja möglichst viel diskutieren und hinterfragen. So lernen die jungen Leute, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich auszudrücken.

      Dass sogar das Weihnachtsfest infrage gestellt wird, erstaunt mich allerdings. Ich wünschte, ich könnte auch in meiner eigenen Familie mehr und offener darüber reden. Hier, heute und jetzt flammt ein kleines, winziges Flämmchen von Widerstand in mir auf.

      3

      Singen ist eine meiner Leidenschaften. Ich habe schon immer gesungen und kann mich sogar ein wenig auf dem Klavier begleiten. Als junges Mädchen wollte ich Sängerin werden. Heute macht mir der Gesang das Putzen erträglicher. Was für eine extrem langweilige Hausarbeit. Sisyphus lässt

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