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ab und zu, wir würden nicht zusammenwohnen. Was ich in der Tat bedauere, ist, dass Paul und ich uns in den letzten Jahren auseinandergelebt haben. Es wird mir Tag für Tag mehr bewusst. Ich möchte gern versuchen, das wieder zu ändern. Der Weltuntergang wäre mir dabei im Weg.

      »Ich bin eigentlich glücklich, aber ich möchte schon noch ein paar Dinge erleben. Dieses Jahr möchte ich wieder mit Papa auf den Silvesterball gehen. Ich hätte wirklich keine Lust auf einen Weltuntergang«, sage ich schließlich halbherzig.

      Es tut mir leid, aber ich kann meiner Tochter gegenüber nicht immer komplett offen und aufrichtig sein.

      Ich glaube, sie spürt das. Ihr skeptischer Blick lässt mich ganz verlegen werden. Sie klappt den Laptop zu.

      »Ihr vergesst doch nicht unseren Elternabend morgen?«, sagt sie streng und geht in ihr Zimmer.

      Bald höre ich ihre Geigenübungen, Tonleitern und Arpeggien über drei Oktaven. Amelie möchte einmal Musik studieren, und bei ihrem Fleiß und ihrer Ernsthaftigkeit halte ich das durchaus für möglich.

      4

      Es ist Elternabend, und Paul geht nicht hin. So läuft das bei uns. Er hat immer einen total wichtigen Termin. Das bringt er jeweils richtig glaubhaft rüber. Ich vermute, alle in seiner Firma sind eingeweiht und arbeiten an seinem Alibi mit.

      Schon als die Mädchen in der Primarschule waren, machten Elternabende keinen Spaß. Da kannte ich aber noch viele Eltern, und wir machten das Beste aus dem Anlass, gingen manchmal hinterher noch gemeinsam in eine Kneipe. Aber jetzt, auf dem Gymnasium, hat das Ganze gar keinen Unterhaltungswert mehr. Ich kenne die anderen Eltern nicht oder würde sie gern nicht kennen. Mein Frauenarzt ist dort und ein ehemaliger Lehrer von mir. Wenn ich anschließend heimgehe, denke ich jedes Mal, dass es vertane Zeit war. Ernstliche Schulprobleme würde man sowieso in Gesprächen unter vier Augen klären. Hier geht es bloß um Organisatorisches, Grundsätzliches. Ein paar Eltern lieben die Auftritte vor Publikum und spielen sich auf. Sie bringen irgendwelche Beschwerden, die man auch im persönlichen Gespräch regeln könnte, lieber vor versammelter Gesellschaft vor.

      Ich hasse es, allein auf Elternabende zu gehen. Ich komme mir vor wie eine Alleinerziehende und werde eigenartig gemustert. Bilde ich mir zumindest ein.

      Diesmal wird es wider Erwarten recht spannend. Nachdem die üblichen Themen bezüglich Schulverlegung, Schulstressbewältigung, Notendurchschnitt erledigt sind, ergreift die Frau meines Gynäkologen das Wort: »Immer wieder wird betont, wie viel Schulstoff unsere Kinder zu bewältigen hätten. Da wundert es mich doch umso mehr, wie man während der Unterrichtszeit so viel über Weihnachten diskutieren kann. Ja, sogar der Weltuntergang wurde thematisiert.«

      Ganz rot ist sie im Gesicht geworden vor Eifer, die Gute.

      Schon schießt eine andere Frau in die Höhe und doppelt nach: »Diskutieren ist eine Sache. Aber hier wurde sogar das Weihnachtsfest an sich angezweifelt. Man hat über eine mögliche Abschaffung abgestimmt. Wo leben wir denn eigentlich? Werden an dieser Schule gar keine christlichen Werte mehr vermittelt?«

      Sie blickt in die Runde, Beifall heischend, und bekommt ihn tatsächlich.

      Jetzt kommt mein ehemaliger Lehrer zu Wort: »Nicht einmal mehr ein Weihnachtskonzert steht auf dem Programm. Ich glaube, das gab es an dieser Schule überhaupt noch nie!«

      Und seine Frau ergänzt: »Meine Tochter hat mir einen Kalender gezeigt. Heute sind es nur noch 22 Tage bis zum Weltuntergang.« Der Klassenlehrer sieht aus, als hätte er den Weltuntergang am liebsten gleich hier und jetzt. Der junge Mann ist ziemlich blass geworden.

      Aber der Schulleiter, ein stämmiger Mittfünfziger, der schon tausend Elternabende erfolgreich gemeistert hat, stellt sich vor ihn: »Bitte, bitte, keine Aufregung. Wir wollen doch die Kirche im Dorf lassen!«

      »Ja, ja, die Kirche im Dorf lassen, aber Weihnachten abschaffen!«, keift eine Dame von ganz hinten.

      Sie spuckt ein wenig beim Reden, so sehr strengt sie sich an, auch in der vordersten Reihe gut verstanden zu werden.

      Ich sitze nur da und beobachte das Spektakel. Ja, ich hatte mich auch über den Umgang mit der Thematik gewundert. Aber hier scheint es mir nicht in erster Linie um ein ernsthaftes Gespräch mit dem Klassenlehrer und die Suche nach Erklärungen zu gehen, sondern vielmehr darum, dass alle fröhlich mitmachen, sobald einer sich traut aufzumucken.

      »Was haben Sie eigentlich gegen Weihnachten, Herr Müller?«, will der Frauenarzt jetzt vom Klassenlehrer wissen.

      Dieser hat sich wieder etwas gefasst, bittet um Ruhe und erklärt dann: »Es tut mir leid, dass sich Ihre Gemüter derart erhitzen. Ich fand die Idee großartig, in Englisch und Französisch auch zeitgemäße Themen zu diskutieren. Es ging darum, die Schüler für ein Thema so zu begeistern, dass sie auch bereit sind zu reden, und ihre Hemmungen vor der Fremdsprache vergessen. Weihnachten eignete sich hervorragend. Da konnte jeder mitreden. Es ist ja nicht der Fall, dass wir wertvolle Schulzeit vertun würden. Nein, wir haben intensiv Englisch und Französisch mündlich trainiert.« Die haben auf Englisch und auf Französisch diskutiert? Wow. Ich bin beeindruckt. Das hatten mir meine Mädchen nicht erzählt. Es ist jetzt schon ein wenig ruhiger im Klassenzimmer.

      »Aber trotzdem …«, meldet sich wieder die Frau des Arztes zu Wort, »… Sie haben über Weihnachten abstimmen lassen!« Sie spuckt ihm den Satz praktisch vor die Füße.

      Inzwischen beginnt der Klassenlehrer, ein paar Blätter zu verteilen, und meint: »Sie regen sich darüber auf, dass wir diskutiert und abgestimmt haben. Sollte es Ihnen nicht viel mehr zu denken geben, wie knapp zum Beispiel diese – gar nicht so ernst gemeinte – Abstimmung ausgegangen ist? Sollten wir nicht die Aussagen unserer Kinder zur Kenntnis nehmen und darüber nachdenken?« Auch der Schulleiter mischt sich wieder ein: »Wir haben uns jedenfalls sehr viele Gedanken gemacht. Wir waren schockiert. Wir haben beschlossen, einfach mal ein Jahr auf die Weihnachtsbeleuchtung zu verzichten. Es leuchtet ja sonst überall genug. Und ja, wir haben beschlossen, statt des Schulkonzerts in der Vorweihnachtszeit, wo ohnehin überall viele Veranstaltungen stattfinden, im Februar ein lustiges Konzert mit Theater zu veranstalten.«

      »Ja, aber das geht doch nicht!«, sagt mein ehemaliger Lehrer.

      »Das Leben ist eben kein Wunschkonzert!«, meint die Frau des Frauenarztes leicht eingeschnappt.

      Allgemeines Gemurmel.

      Da stehe ich auf. Es überkommt mich irgendwie. Ich habe nicht drüber nachgedacht. Ich kann einfach nicht anders. Ein spontaner Mutanfall.

      Laut und deutlich sage ich: »Ich finde diese Entscheidung sehr gut. Danke.«

      Dann setze ich mich wieder.

      Ich werde wohl meinen Frauenarzt wechseln müssen …Dafür habe ich jetzt beim Klassenlehrer Müller einen Stein im Brett.

      Er erklärt: »Auf den ausgeteilten Blättern sehen Sie eine Zusammenfassung unserer Weihnachtsdiskussionen. In Englisch und Französisch. Das war sozusagen die Abschlussarbeit dieser Thematik.«

      Wir könnten die Blätter gerne mit nach Hause nehmen.

      »Lesen Sie das alles mit offenem Herzen. Mich hat am meisten getroffen, dass fast alle Kinder das Fest völlig anders feiern möchten, als es tatsächlich in ihren Familien gemacht wird. Fast alle fühlen sich durch Weihnachten gestresst, spüren auch keine gute Stimmung zu Hause.«

      Das sei doch wirklich traurig. Dann verabschiedet er uns mit einem »Fröhliche Weihnachten!«.

      Der Schulleiter doppelt nach: »Fröhliche Weihnachten!«

      Beim Herausgehen schimpft mein Frauenarzt, dass es sicher nicht so weit komme, dass er sich von der Schule vorschreiben lasse, wie er Weihnachten zu feiern habe. An seinem Fest werde er auf keinen Fall etwas ändern.

      Fröhliche Weihnachten …

      5

      »War was

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