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an ohne zu blinzeln, als wollte sie ihn mit ihren Augen an Ort und Stelle bannen. Tatsächlich merkte er, wie seine Füße innehielten; er blieb stehen, obwohl die Krähe zornig mit den Flügeln raschelte, und erwiderte wie betäubt den Blick des schneeweißen Tieres.

       Erst ein melodischer Schrei machte ihn auf den dritten Vogel aufmerksam, der ein Stück weit von den anderen entfernt im Geäst eines verkrüppelten Busches saß. Auch dieser war ein Raubvogel, ein Gerfalke mit wundervoll gemustertem Gefieder, der mit leicht schräg geneigtem Kopf das Geschehen vor seinen Augen beobachtete.

       Es war unheimlich still.

       Er selbst wagte nicht sich zu rühren aus Angst, eines der Tiere zu reizen. Erst, als er das immer lauter werdende Gluckern hörte, fuhr er auf: Ohne dass er es bemerkt hätte, hatte das Blut am Baum den Boden erreicht, doch anstatt in der Erde zu versickern, quoll es zwischen den Wurzeln hervor, als ob es von einer geheimen Quelle darunter gespeist würde. Wie ein langsam anschwellender Bach kam es den Hügel hinabgekrochen, zwischen den Totensteinen hindurch, als ob es einen Weg zu ihm suchte. Erschrocken stolperte er zurück, und die Krähe ging zum Angriff über: Mit einem heiseren Krächzen warf sie sich auf die Schneeeule und schlug ihre Krallen in das strahlend weiße Gefieder. Verbissen hackte die Krähe auf die sich sträubende Gegnerin ein, bis diese mit einem Kreischen am Boden zusammenbrach, blutüberströmt und tot. Ohne zu zögern ließ sich die Aaskrähe auf ihrer Brust nieder und begann in haltloser Gier Fetzen herauszureißen. Er wollte sie wegscheuchen, aber noch ehe er einen Schritt getan hatte, hatte der Gerfalke sich von seinem Strauch erhoben und warf sich auf die Krähe. Auf grausige Art fasziniert, starrte er auf die kämpfenden Vögel und bemerkte zu spät, dass der Blutstrom seine Richtung geändert hatte. Er erreichte den Falken in dem Moment, als sein Widersacher sich kreischend in die Luft erhob und die Flucht ergriff. Das Rot sprudelte über die Krallen des Gerfalken, der mitten in der Bewegung zurückzuckte, als ob ihn unsichtbare Hände am Boden festhielten. Der Falke schrie dumpf und schauerlich auf, dann fiel er in sich zusammen, wild mit den Flügeln schlagend, und wälzte sich noch mehr in dem dickflüssigen Blut. Mit stummem Entsetzen sah er zu, wie der Vogel langsam erstickt wurde, sich kreischend und flatternd hin und her warf, bis er sich nicht mehr regte.

       Eine furchtbare Traurigkeit erfasste ihn; er wusste, ohne sagen zu können woher, dass der Tod dieser beiden Tiere das Ende einer Epoche bedeutete, dass ihr Verlust mit nichts auf der Welt wiedergutzumachen sein würde. In diesem Moment schoss ein scharfer Schmerz durch seine Schulter, dort, wo sich lautlos die Krähe niedergelassen hatte. Sie krächzte spöttisch und fixierte ihn mit ihrem schwarzen, toten Auge, und im gleichen Augenblick löste sich die Form des Blutstroms auf, dutzende Nebenarme zweigten davon ab und strömten in Windeseile über den Friedhof, ertränkten Gras, Boden und Stein, sickerten in die Ritzen der Erde und kehrten wild kochend wieder zurück, und über all dem war die scheußliche Stimme der Krähe, der Schmerz und seine eigene Stimme, die schrie, obwohl ihn niemand hörte. Und plötzlich – urplötzlich erkannte er –

      Kirin schlug die Augen auf.

      

       Aracanon, Hauptstadt Nardéz, Frühsommer im Jahr 1098 des zweiten Zyklus

      Verwirrt blinzelte Kirin und drehte sich auf den Rücken; mit klammen Fingern rieb er sich die Augen und versuchte sich an die Einzelheiten seines Traumes zu erinnern: Ein Baum war darin vorgekommen, geborstene Totensteine, Nebel und Blut. Und die Krähe.

      Unwillkürlich legte er die Hand auf die Schulter, dort, wo der Vogel die Krallen in sein Fleisch geschlagen hatte; ihm war, als täte sie immer noch weh. Langsam wich die Kälte, die sein Innerstes ergriffen hatte, und er setzte sich auf. Graues Licht flutete durch geschlossene Läden in den Raum und zeigte ihm schemenhaft die Möbel, die sich darin befanden: Ein Schreibtisch mit Stuhl, einige niedrige Sessel, Kleidertruhen, ein Spiegel. Verwirrt strich er über die weiche Bettdecke, wie um sich zu versichern, dass sie wirklich da war. Obwohl die Erinnerungen an den Traum von Herzschlag zu Herzschlag mehr verblassten, schwitzte er und seine Finger zitterten leicht. Die Stimme des Aasvogels dröhnte ihm noch in den Ohren und der zerfetzte Kadaver der Eule hatte sich in seine Netzhäute gebrannt. Es war ihm so wirklich vorgekommen …

      Als die Tür zu seinem Gemach aufgerissen wurde, zuckte er so heftig zusammen, dass es ihn eine Handbreit von der Matratze hob; hektisch versuchte er, seine Augen gegen das hereinströmende Licht abzuschirmen.

      »Exzellenz«, ertönte eine heisere Stimme, »Exzellenz, verzeiht, dass ich Euch störe. Aber die Sonne ist lange aufgegangen und die Besucher beginnen bereits, sich zu versammeln …«

      Kirin schloss die Augen und stöhnte; richtig, die Audienz. Fast hatte er sie vergessen.

      »Ich komme«, sagte er, indem er die Decke zurückschlug; sein Nachthemd war durchgeschwitzt und klebte ihm am Rücken. »Ich brauche ein Bad«, befand er und streifte es sich über den Kopf.

      »Sicher, Exzellenz. Und ich habe Eure Rüstung für Euch zurechtlegen lassen.«

      Kirin verzog den Mund. »Haltet Ihr das für eine gute Idee? Damit ich mir wieder anhören darf, dass ich mich anbiedere?«

      Mit einem leisen Quietschen wurden die Läden geöffnet; Kirin blinzelte gegen den strahlenden Sonnenschein an, konnte aber nicht verhindern, dass er ihn für einen Augenblick blendete. Als er wieder etwas sehen konnte, stand er einem Mann in den Fünfzigern gegenüber, dessen kurzes schwarzes Haar und hellbraune Haut ihn ohne jeden Zweifel als Arachinen auswiesen. Er trug einen sorgfältig gestutzten Vollbart und war in eine lange braune Kutte gehüllt, die ihm bis zu den Stiefeln reichte.

      Auf Kirins Worte hin neigte er leicht den Kopf. »Ihr müsst Euch als der präsentieren, der Ihr seid: Mit der Annahme der Uniform eines arachinischen Kriegers zeigt Ihr Euch als einer der Ihren.«

      »Und das ist genau das, was sie mir übelnehmen.« Verärgert strich sich Kirin sein blondes Haar zurück. »Ein ausländischer Bastard, der so tut als wäre er Arachine, das ist es, was sie alle von mir denken.«

      »Sie würden sicher nicht besser von Euch denken, wenn Ihr in den Kleidern eines ostländischen Bauern herumlaufen würdet.« Ein leichter Anflug von Humor blitzte in den dunklen Augen des anderen Mannes auf. Sein Name war Aderuz und er war Heiler am Hof von Aracanon, schon seit über zwanzig Jahren. Er hatte unter dem vorherigen Herrscher gedient, so wie er jetzt unter Kirin diente – was einige vielleicht als Nachteil empfunden hätten, weil Kirin seinem Vorgänger erst vor wenigen Monden brutal ein Messer in den Hals gerammt hatte. Kurz schloss Kirin die Augen und wandte Aderuz den Rücken zu, als ihn die Erinnerung daran überflutete: Galihl Phalaér hatte als Großfürst von Aracanon versucht, auch den Rest des Kontinents für sich zu erobern. Er war in seine Nachbarländer eingefallen und hatte somit die Bestimmungen des Großen Vertrages, der die Länder Paradons in Frieden hätte einen sollen, gebrochen. Die übrigen Reiche waren gegen ihn marschiert und hatten zunächst katastrophale Niederlagen erlitten – bis sie mithilfe einer von Kirin entwickelten neuen Waffe und der List eines arachinischen Überläufers das Blatt hatten wenden und den Krieg für sich entscheiden können. Dazu hatte es allerdings erst der Eroberung von Nardéz bedurft – und des Todes von Galihl selbst, der zu allem Übel Kirins Vater gewesen war. Nun, eher Erzeuger; soweit Kirin hatte in Erfahrung bringen können, waren die Umstände seiner Entstehung sehr unglücklich gewesen: Galihl hatte eine im Palast gefangene Sklavin namens Szarell geschändet und geschwängert, woraufhin sie geflohen war, aus Angst, Galihl würde ihr Kind töten, sobald es auf der Welt war. Dabei war sie gestorben, ihr Sohn jedoch hatte überlebt und jetzt endlich seinen rechtmäßigen Platz eingenommen.

      Das zumindest war die Geschichte, die er jedem erzählte und die er sich selbst jeden Abend vor dem Einschlafen wiederholte, in der Hoffnung, sie eines Tages glauben zu können. Die Ereignisse nämlich, die auf Galihls Tod gefolgt waren, waren auf ihre Weise ebenso schrecklich gewesen wie der Kampf gegen Galihl höchstpersönlich, und er tat alles, was er konnte, um sie zu verdrängen.

      Er holte tief Luft und öffnete die Augen, um im Spiegel einen Blick auf Aderuz zu werfen, der hinter ihm stand. Er wirkte mitfühlend, aber auch aufmerksam, und Kirin wusste, warum: Aderuz diente dem Thron Aracanons,

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