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ich, ist in ihrer Seele ausgeheilt und hat aus der Vergangenheit genügend Lehren gezogen, um ein neues Leben zu beginnen. Marey, natürlich – und Elouané.«

      Ilmra erstarrte, die Lippen mit einem Mal blutleer.

      Elouané.

      Ihr war klar gewesen, dass Marey, die ihr ganzes Leben im Ordenshaus verbracht hatte, in diesem Jahr die Weihen empfangen würde. Selbst Ideth, die früher eine Hure in einem Gasthaus in Kepthlathon gewesen war, mochte als angemessen durchgehen; reuige Sünder aufzunehmen und sie zum Licht zu führen, war eine der Hauptaufgaben ihres Ordens.

      Aber Elouané … Ilmra hatte dieses Mädchen nie gemocht. Von dem Tag, an dem sie zum ersten Mal das Ordenshaus betreten hatte, war sie ihr seltsam vorgekommen, war ihr Gesicht viel zu makellos gewesen, um das einer wahrhaft reinen Priesterin zu sein. Und auch später hatten sich diese Bedenken nicht zerstreut: Ihr ganzes Wesen, ihre Unterwürfigkeit waren zu aufgesetzt, ihr Eifer zu dienen zu groß, ihre Hingabe geheuchelt. Dieses Mädchen, das hatte sie vom ersten Augenblick an gewusst, würde niemals eine aufrechte Dienerin des Lichten werden.

      »Du wirkst mit einem Mal so besorgt, Schwester«, bemerkte die Ordensmutter, die farblosen Brauen gerunzelt.

      Ilmra räusperte sich. »Ich wage es nicht, die Weisheit deiner Entscheidung anzuzweifeln, Mutter – aber denkst du nicht auch, dass Elouané ein wenig zu jung ist, um die Priesterweihen zu empfangen? Sie ist fast zwei Jahre jünger als die anderen Novizinnen, jünger als die meisten, die jemals aufgenommen wurden. Ich befürchte, ihre Ernennung könnte verborgene Eifersucht wecken.«

      Lenidar sah zu ihr auf; ihr verhutzeltes Gesicht blieb unverändert freundlich. »Eifersucht ist dem Herzen eines wahren Gläubigen fern«, stellte sie leise fest. »Wer mit sich selbst eins ist, kann nur Freude für denjenigen empfinden, der Glück erlebt – besonders wenn er ihm so nahe ist, wie unsere Schwestern es untereinander sind.«

      Ilmra presste die Lippen zusammen; unwillkürlich hatte sie das Gefühl, machtlos zu sein, so machtlos wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie wollte der Ordensmutter begreiflich machen, was sie fühlte, aber sie wollte nicht den Anschein erwecken, aus eitlen Motiven zu handeln. Glücklicherweise jedoch schien die alte Frau zu ahnen, was in ihr vorging. »Du hast noch immer Zweifel, nicht wahr? Nur zu, äußere dich. Bedenken im Herzen zu tragen und sie dort zu vergraben, wird sie nur umso stärker machen, wenn sie schlussendlich hervorbrechen.«

      Ilmra holte tief Luft. »Sie hat ein gespaltenes Wesen, Ordensmutter. Ihre Zunge mag die Gebete sprechen, ihre Hände die Opferungen vollziehen – doch in ihrem Herzen ist sie weit fort von der Wahrheit.«

      »Wirklich?« Mutter Lenidar runzelte die Stirn. »Mir kam es immer so vor, als sei gerade in ihr die Kraft, die uns mit dem Lichten verbindet, ungewöhnlich stark. Auch die anderen Schwestern berichten mir von ihrer Aufrichtigkeit und Frömmigkeit, von ihrer Bescheidenheit und Gelehrsamkeit, ohne dass ihnen Falschheit darin aufgefallen wäre.«

      »Ihre Absichten, Mutter, sind in ihren Grundsätzen gewiss gut«, begann Ilmra überlegt, »doch ist ihr Bemühen um den Glauben zu groß, zu begierig, als dass es mir wahrhaftig schiene. Ihre unnatürlich schnelle Eingliederung und Annahme unserer Gebräuche … jede andere Novizin hatte zu Beginn Schwierigkeiten damit. Nur ihr scheint die Entbehrung so leicht zu fallen, als ob sie eine Maske vor ihre Seele hielte. Und ihre Gelehrsamkeit, die meine geliebten Schwestern gewiss nicht grundlos loben, nimmt in meinen Augen schon solche Züge an, dass man von Maßlosigkeit sprechen könnte, im Mindesten aber von Selbstgefälligkeit.«

      Mutter Lenidar schmunzelte. »In der Tat. Und ich wähnte, gerade diese Tugend sei es, die du an unseren Novizinnen für gewöhnlich am meisten schätzt.« Sie blinzelte mit ihren klugen Knopfaugen, und plötzlich fühlte Ilmra sich beschämt.

      »Vergib mir, dass ich so spreche«, murmelte sie, »aber du selbst hast mich darum gebeten. Ich traue Elouané nicht, auch wenn ich nicht sagen kann, wieso. Sie scheint frei von Tücke – und doch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass Böses auf ihr lastet. Selbst du, Ordensmutter, weißt nichts von den Umständen, unter denen sie zu uns kam – oder hast es in deiner Weisheit bisher nicht als ratsam angesehen, mich davon zu unterrichten. Elouané gibt vor, sich an nichts zu erinnern, was war, bevor sie mit neun Jahren vor unserer Tür stand. Aber was, wenn sie lügt? Wenn sie etwas verbergen will, was finster und sündhaft ist?« Ilmra atmete jetzt schneller; lange schon hatte sie diese Gedanken mit sich herumgetragen und sie niemandem als ihrem Gott im Gebet anvertraut. Und obwohl sie wusste, dass sie vielleicht zu weit ging, konnte sie nicht aufhören zu reden: »Mutter Lenidar, ich glaube, es ist ein Fehler, sie jetzt schon zur Priesterin zu weihen. Ich habe die Ahnung, dass irgendwann ihre wahre Natur hinter der Maske zum Vorschein kommt, und ich denke, wie auch immer diese aussehen mag, wir sollten sie kennen, ehe wir sie untrennbar mit dem Lichten verbinden.«

      Daraufhin herrschte einen Moment Schweigen; Lenidar schaute an Ilmra vorbei über die Klippen aufs Meer, das in der zunehmenden Dunkelheit friedlich unter ihnen lag und fast spielerisch gegen die Felsen rauschte. Die Stille dauerte gerade lange genug an, dass Ilmra Zeit hatte, ihre Worte zu bereuen.

      Ehe sie jedoch noch etwas sagen konnte, sagte Lenidar: »Es ist wahr, was du sagst: Wir wissen nicht viel über dieses Mädchen, das damals zu uns kam, verwildert, ohne ein Anzeichen von ihrer Familie oder Vergangenheit. Doch das war auch bei anderen so. Manche der Mädchen, die bei uns sind, sind Töchter aus hohen, angesehenen Häusern, die ihren Familien Ehre machen, wenn sie Priesterin werden. Andere wiederum sind hier, um dem Hunger zu entfliehen. Es gibt keinen Grund, die eine anders als die andere zu behandeln. Und von der Abstammung auf den Charakter zu schließen, ist ein weltlicher Fehler, der viel zu oft und viel zu fahrlässig begangen wird. Ich danke dir für deine Worte, Ilmra, und ich werde sie nicht vergessen. Aber meinen Entschluss werden sie nicht ändern.«

      In den fast vierzig Jahren, die Ilmra nun unter ihrer Führung lebte, hatte sie Lenidar niemals die Stimme erheben hören. Auch jetzt tat sie es nicht, doch es lag etwas unmissverständlich Endgültiges in ihren Worten, und daher widersprach Ilmra nicht. Schweigend legten die beiden Frauen den restlichen Weg zum Tempel zurück, wobei sie nur kurz an der Götterstatue am Ende des Weges innehielten, um ein Gebet zu sprechen. Sie traten in dem Moment durch die Tore, als die Glocke zur Abendandacht geläutet wurde. Zwei Ordensschwestern schlossen die hölzernen Türflügel hinter ihnen, als sie eintraten.

      Ilmra hatte unter ihren langen Ärmeln die Finger ineinander verklammert und hörte kaum hin, als eine der Torwächterinnen Lenidar vom vergangenen Tagewerk erzählte; sie fühlte sich abgewiesen, auch wenn sie sich große Mühe gab, es nicht zuzugeben. Sie hatte Lenidar ihre geheimsten Befürchtungen anvertraut, und die Ordensvorsteherin hatte sie abgetan, als bedeuteten sie nichts. Dabei hatte Ilmra sich stets eingebildet, ihr vollstes Vertrauen zu besitzen. Offenbar galt das nicht, wenn es um Elouané ging. Ilmra hätte dies gerne damit entschuldigt, dass Lenidar partout nichts Schlechtes über ihre jungen Zöglinge denken wollte, doch sie war höchstpersönlich anwesend gewesen, als Lenidar vor einigen Jahren eine junge Frau aus dem Orden ausgeschlossen hatte. Das Mädchen hatte das Keuschheitsgelübde verletzt und war ohne jegliche Ehre des Tempels verwiesen worden. Ilmra erinnerte sich jetzt noch an das verweinte, von Qual erfüllte Gesicht und das Bitten und Flehen der jungen Frau, ihr möge vergeben werden. Doch Lenidar war auf die ihr eigene gütige Weise hart geblieben; man hatte der Verstoßenen Lebensmittel und ein wenig Geld mitgegeben, aber das war auch alles gewesen. Was in diesem harten, von Fremdherrschaft geprägten Land aus ihr geworden war – die Drei allein wussten es. Es stimmte also, dass Lenidar durchaus streng sein konnte, wenn sie wollte. Doch sobald es um dieses Waisenmädchen ging, schien sie Ilmra nicht mehr zugänglich zu sein.

      Tief atmete sie ein und aus, um ihre bitteren Gedanken zum Schweigen zu bringen; solche Zweifel ziemten sich nicht für die stellvertretende Ordensvorsteherin, und schon gar nicht, wenn sie einer Frau wie Lenidar galten. Von tiefen Gewissensbissen erfüllt, drehte sie sich zu der alten Frau um und war erstaunt, dass diese sie direkt ansah; hatte sie wieder einmal mehr von ihren Gefühlen erahnt als Ilmra hatte zeigen wollen?

      »Ich werde mich jetzt auf die Gebete vorbereiten«, erklärte Lenidar, ohne Ilmras unausgesprochene Befürchtung damit zu beantworten. »Geh nur in den Tempel, ich komme sofort

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