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bildete. Von überallher strömten Ordensschwestern darauf zu, und während Ilmra die Stufen hinaufstieg, spürte sie, wie die vom Sonnenlicht erhitzten Steine ihr Wärme entgegenstrahlten, als ob ein geliebter Freund sie begrüßte.

      Sobald sie die Außenmauern hinter sich gelassen hatte, umfasste sie die Düsternis des Tempels, doch in sämtlichen Nischen standen Novizinnen bereit, die mit geübter Hand Kerzen anzündeten, um die Andachtshalle zu erleuchten. Eine tiefe Ergriffenheit kam über Ilmra, und während sie den Mittelgang entlangging, musterte sie die von Meisterhand verputzten Wände, die steinernen Bänke und die Figuren, die in die Decke gemeißelt waren, als sähe sie das alles zum ersten Mal. Unwillkürlich wurde ihr Blick von der gewaltigen Statue am Ende des Ganges angezogen: Ein alter Mann, der eine Kerze hielt, sein weißer Bart ebenso aus Marmor gemeißelt wie seine Kutte und die nackten Füße, die darunter hervorlugten. Während sie hinsah, kletterten zwei Mädchen eine kleine Holzleiter empor, um das Feuer in der Talglampe in den Händen der Statue zu entzünden, die in Wahrheit die Größe eines Badezubers hatte.

      Lächelnd erwiderte sie die schüchternen Respektsbekundungen der Novizinnen und Ordensschwestern, an denen sie vorbeiging, ohne jedoch das Standbild aus den Augen zu lassen. Soeben sprangen die ersten Funken auf das Holz über, und einen Augenblick später war der vordere Teil des Tempels erleuchtet von warmem, Frieden spendendem Feuer. Ilmra ließ sich auf ihrem üblichen Platz in der vordersten Reihe nieder; sie spürte, wie sie beim Anblick des heiligen Lichtes fast unwillkürlich ruhiger wurde. Dieses Gefühl hielt gerade einmal fünf Herzschläge an, so lange nämlich, bis die beiden Mädchen von der Leiter heruntergeklettert waren und ihr die Gesichter zuwandten; eines davon war Lyda, eine etwa elfjährige Novizin, die erst vor kurzem zu ihnen gestoßen war, das andere war Elouané.

      Augenblicklich verkrampfte sich Ilmras Herz. Sie erwiderte den Blick des Mädchens und zwang sich, vorurteilslos und gleichgültig auszusehen. Doch in ihrem Inneren wand sich etwas.

      ›Diese Haare‹, dachte sie. Lange, rote Lockenhaare, die ihr bis zu den Hüften fielen und im Feuerschein seidig schimmerten. Hatte nicht Galteia, die Seehexe, auch solche Haare gehabt? Und hatte sie nicht eben diese Haarpracht gebürstet und aufgeputzt, als sie die Richterin Waage selbst hatte verführen wollen? Und erst der Mund, voll und geschwungen, als hätte ein brünstiger Gott ihn sich ausgedacht. Als sich ihre Blicke begegneten, senkte Elouané die Augen, aber Ilmra meinte, ein spöttisches Lächeln um diese Hurenlippen spielen zu sehen.

      »Deine Hände sind schmutzig«, herrschte sie das rothaarige Mädchen an. »Geh und wasch sie, bevor du einen der heiligen Gegenstände berührst oder die Tempelbänke schmutzig machst!«

      »Ja, ehrwürdige Erste Schwester.«

      Elouané verbeugte sich und huschte davon; als sie an ihr vorbeiging, peitschten Ilmra die langen Haare ins Gesicht, eine Frechheit, die unmöglich zufällig gewesen sein konnte. Sie zwang sich, still sitzen zu bleiben und nach vorne zu sehen, in das mild lächelnde Antlitz des Lichten, und sich nicht von der Wut überkommen zu lassen, die sich in ihrem Magen aufstaute. Wenn die Zeit gekommen war, dass Lenidar Elouané zur Priesterin weihte, würde das Mädchen ihre Haare opfern müssen, als Zeichen der völligen Ergebenheit zu ihrem Gott. Ilmra schwor sich, dass sie selbst es sein würde, die die Schere in die Hand nahm und ihr die Hexenlocken abschnitt. Was für eine Befriedigung würde das sein!

      Erneut schämte sie sich vor sich selbst. Ratlos schüttelte sie den Kopf und senkte die Stirn auf die Hände zum Gebet. In all den Jahren im Ordenshaus hatte sie stets einige der jungen Novizinnen mehr gemocht als andere, sich einige zu Freundinnen gemacht und von anderen kaum Notiz genommen – das war nur natürlich und etwas, was bei allen Ordensschwestern gleich vorkam. Warum, fragte sie sich nicht zum ersten Mal, fiel es ihr so schwer, Elouané zu vertrauen? Die Kleine hatte ihr nie etwas Böses getan, war in den fast sechs Jahren, in denen sie sie nun kannte, niemals negativ aufgefallen. Wie Lenidar sie eben erinnert hatte, war sie gelehrsam, klug, freundlich, fromm … was war es nur, das Ilmra an ihr missfiel? Doch gerade weil diese Abneigung so ungewöhnlich für sie war, war Ilmra entschlossen, sie ernst zu nehmen und der Ursache dafür früher oder später auf den Grund zu gehen.

      »Der Preis für Saatgut wird dieses Jahr mindestens dreimal so hoch sein wie bisher.« Fonja rieb sich den Nacken und legte die Rechentafel hin. »Die Ersparnisse des Ordens würden für solche Ausgaben eigentlich ausreichen, aber wenn die Welle an Armen und Bedürftigen weiter so anhält, werden wir fast alles für die erste Hilfe an Ort und Stelle ausgeben, anstatt es für die nachhaltigeren Mittel aufzubewahren. Der Lichte möge uns beistehen, ich fürchte, es wird einen harten Winter geben.«

      Die Kerzen in der Schreibstube im Wohntrakt des Tempels waren schon fast heruntergebrannt, ein Zeichen dafür, dass die Propsta seit der Andacht den ganzen Abend gearbeitet hatte. Auf dem winzigen Schreibpult lagen Papyri, Tabellen und einige wenige kostbare Pergamente verteilt, sodass kaum mehr Platz für die kleine Wachstafel war.

      »Jetzt ist Sommer, liebe Schwester«, versuchte Ilmra sie aufzumuntern, wenngleich ein Blick in die Zahlen ihr genügte, um jedes Wort der jüngeren Ordensschwester zu glauben. »Die Saat wird erst aufgehen, die Ernte noch kommen. Wenn genügend Regen fällt und die Sonne stark genug ist …«

      »Dennoch ist der Boden aufgewühlt, viele Felder wurden zerstört.« Tiefe Falten gruben sich in Fonjas Mundwinkel, ihre nussbraunen Augen blickten traurig. »Das Wüten der Armeen hat nur Schaden gebracht. Die Waage hat sich gesenkt und der Schatten lacht triumphierend über uns. Das Glück scheint uns zu hold gewesen sein in den vergangenen Jahren. Ich hoffe nur, dass die Göttin jetzt genug Gerechtigkeit hat walten lassen und uns wieder Frieden beschert.«

      Ilmra räusperte sich. »Die Gewalt hat unser Haus verschont, Propsta, damit wir den Menschen helfen und ihr Leid lindern können. Denk immer daran. Die Götter sind nicht ungerecht, und der Lichte schon gar nicht. Unser Dasein hat einen Zweck, und mit Seiner Hilfe werden wir die uns anvertraute Aufgabe lösen. Wir sind Seine Werkzeuge und in Seinem Namen werden wir für Seine Geschöpfe Sorge tragen.«

      »Gewiss, Erste Schwester, du hast Recht. Verzeih mir.« Fonja stand auf; erschöpft rieb sie sich die Stirn, dort, wo das weiße Kopftuch ihren Haaransatz verbarg. Man sah ihr an, dass sie stundenlang über den Kassenbüchern gesessen hatte: Ihre Augen waren rot von der Mühe, die kleinen Buchstaben und Zahlen zu entziffern, und ihr Rücken schien gebeugt.

      »Geh jetzt und ruh dich aus, Schwester«, empfahl ihr Ilmra und legte ihr im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. »Lass deine Sorgen ruhen bis morgen und vertrau deine Seele im Schlaf dem Lichten an. Er wacht über uns, sei unbesorgt.«

      Fonja lächelte müde und verabschiedete sich. Ilmra hingegen blieb in der engen, dunklen Schreibstube zurück, obwohl auch sie nichts lieber getan hätte als sich schlafen zu legen. Sie hatte selbst noch Arbeit zu erledigen und sie aufzuschieben hieße nur, morgen noch mehr zu tun zu haben. Also räumte sie umsichtig die Unterlagen der Propsta zusammen, um sich Platz am Schreibpult zu schaffen. Dabei fiel ihr Blick auf eine gebundene Wachstafel, die achtlos in eine Ecke des Pults verdrängt worden war: Die Novizinnenliste. Normalerweise genügte eine einzige Tafel nicht, um die Namen aller Bewerberinnen aufzunehmen, in letzter Zeit jedoch waren nur sehr wenige Mädchen zu ihnen gekommen; der Wohlstand Aracanons hatte sich bis weit in den Süden bemerkbar gemacht und in den Menschen das Bedürfnis nach Nähe zu ihren Göttern verblassen lassen. Jetzt, nach dem Krieg, da war Ilmra sicher, würden wieder mehr kommen. Beim Anblick der Tafel spürte Ilmra einen winzigen Stich in ihrem Herzen; sie hatte nach der Abendandacht Fingerabdrücke aus Asche an einer der Steinbänke gefunden, und obwohl sie selbst Elouané zum Händewaschen geschickt hatte, hatte sie das Mädchen im Tempel zurückbleiben lassen, um die Spuren zu entfernen. Dabei hatte sie absichtlich außer Acht gelassen, dass die Finger viel zu klein waren, um einer Fünfzehnjährigen zu gehören, aber sich selbst gegenüber rechtfertigte sie die Entscheidung damit, dass Elouané für Lyda als jüngere Gefährtin verantwortlich gewesen und es nicht ihre, Ilmras, Schuld war, wenn sie sie nicht ebenfalls zum Waschen mitgenommen hatte. Außerdem würde ein wenig körperliche Ertüchtigung vor dem Schlafengehen ihr nur gut tun. Ein winziger, unparteiischer Teil ihres Verstandes jedoch schalt sie ungerecht, weil sie schon wieder ihrer unbegründeten Abneigung gegen das rothaarige Mädchen nachgegeben und sie bestraft hatte.

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