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nach galoppierenden Hufen zu horchen, nach irgendeinem Zeichen, dass Elouané die Flucht gelungen war. Allerdings überhäuften die Frauen in ihrer nächsten Nähe sie mit Fragen, was vor sich gehe, wer diese Männer seien und was sie von ihnen wollten, sodass sie keine Chance hatte, etwas zu hören.

      Sie wusste nicht, wie lange ihre Angreifer sie so dastehen ließen, in zunehmender Dunkelheit und Kälte, während sie sie wie Statuen umringten und weder auf Fragen noch auf Flehen reagierten. Hin und wieder stießen weitere ihrer Kumpane hinzu, die vereinzelte Ordensschwestern hinter sich herzerrten, doch Elouané war dem Lichten sei Dank nicht unter ihnen.

      Die Hälfte der Nacht war schon verstrichen, als endlich eine Gruppe von fünf Männern über den Hof geschritten kam, eine einzelne Leitfigur vorneweg, für die sich der Wächterring teilte, um sie durchzulassen. Ilmra schauderte beim Anblick des Mannes: Wie alle anderen auch trug er ausnahmslos schwarze Gewänder ohne irgendeine Form von Schmuck oder Wappen, als wäre er direkt aus der Dunkelheit entstanden. Seine Züge wirkten merkwürdig verwischt, beinahe verbrannt, und tiefe Narben höhlten seine ohnehin eingefallenen Wangen aus. Seine kleinen, finsteren Augen glitten suchend über ihre Gesichter und blieben schließlich an Ilmra hängen. »Du bist die Stellvertreterin?«, fragte er mit einer Stimme, die so grausam war wie er aussah.

      »Die stellvertretende Ordensführerin, ja.« Ihre eigene Stimme, fiel ihr auf, klang schwach und heiser, wie das Krächzen eines verängstigten Huhns gegen das tiefe Grollen eines Wolfes. Der Mann fixierte sie, und einen Moment hatte Ilmra den Eindruck, ihr würde bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen.

      »Du führst Listen über alles, was hier geschieht? Wer kommt und wer geht?«

      »So ist es.« Ilmra verschränkte die Finger und ging im Geiste die Abendgebete durch; fast augenblicklich fühlte sie sich gestärkt.

      Der Mann kam einen Schritt auf sie zu. »Wo ist sie?«, fragte er.

      Ilmra reckte das Kinn. »Ich weiß nicht, wen du meinst.«

      Der Mann riss den Arm hoch und Ilmra zuckte zurück, weil sie dachte, er wollte sie schlagen. Dann sah sie, dass er ihr eine Wachstafel unter die Augen hielt, genau die Tafel, die sie selbst im Tempel verloren hatte.

      »Auf dieser Liste sind dreizehn Namen notiert«, erklärte er. »Dreizehn Namen für dreizehn Novizinnen. Hier sind nur zwölf. Wo ist die letzte? Antworte!«

      Ilmras Gedanken rasten mit dem Schlag ihres Herzens um die Wette; wenn überhaupt, war Elouané gerade erst fortgeritten. Wenn sie ihr jetzt nachsetzten, würden sie sie womöglich wieder einholen und ihr dasselbe antun, was sie mit all den anderen Unglücklichen vorhatten. Durch ihr Gelübde als weiße Priesterin aber war es ihr verboten zu lügen.

      Hastig dachte sie nach, dann räusperte sie sich. »Sie hat uns in der Nacht verlassen«, erklärte sie. »Ich weiß nicht, wo sie hin ist. Viele Mädchen geben die Laufbahn als Priesterin auf, wenn sie erkennen, wie hart dieses Leben wirklich ist.«

      ›Ich habe nicht gelogen‹, dachte sie, ›nur einige verschiedene Wahrheiten erzählt.‹

      Der Mann mit dem verzerrten Gesicht musterte sie einen Moment verächtlich. Dann warf er ihr die Wachstafel ins Gesicht. »Sucht das letzte Mädchen!«, befahl er seinen Getreuen, die wie Fledermäuse in die Finsternis davonstoben. Daraufhin wandte er sich wieder ihr zu. »Wir werden sie schon finden, deine Entlaufene.

      Die anderen«, fügte er hinzu und zog einen Gegenstand aus seinem Gürtel, »bringt unserem Herrn als Opfer dar. Er wird erfreut sein über so viel jungfräuliches Blut.« Bei diesen Worten hob er das Ding, das in seinem Gürtel gesteckt hatte, und Ilmra erkannte, was es war: Ein Dolch. Ein geschwungener, am Griff verzierter Dolch, den sie in ihrem Leben so oft gesehen hatte, dass sie ihn mit geschlossenen Augen hätte aufmalen können: Es war der Dolch, den die schwarzgewandete Statue in den Händen hielt, die neben der Waage und dem Lichten auf dem Sockel vor dem Tempel stand. Die Waffe des Dunklen Gottes. Entsetzt riss sie den Mund auf – und brach gurgelnd zusammen, als der schwarze Priester ihr die Kehle aufschlitzte.

      Die anderen Frauen schrien und kreischten, als die Erste Schwester zusammenbrach, die adrigen Finger um die klaffende Wunde an ihrem Hals geklammert. Ihr Mörder drehte sich so gleichgültig von ihr weg, als hätte er gerade eine Fliege totgetreten.

      »Was ist los? Was machst du da?« Ein weiterer Schwarzgewandeter kam im Laufschritt angerannt, den Blick auf die Tote gerichtet. »Was fällt dir ein, die Opfer zu verschwenden, um deine eigene Blutgier zu stillen? Du weißt genau, dass wir jede einzelne Gabe brauchen!«

      Sein Gefährte wandte sich mit zusammengekniffenen Augen zu ihm um. »Sie hat versucht, mich zu belügen. Sieh her«, er hob die Ordensliste auf, »dreizehn Mädchen sollten es sein, zwölf sind hier. Habt ihr die Fehlende gefunden?«

      Der zweite Mann schüttelte seinen blonden Kopf.

      Der mit den verwischten Zügen schnaubte verärgert. »Sei’s drum. Brennt die Schlaftrakte ab, dann wird sie schon zum Vorschein kommen, wenn sie sich irgendwo dort versteckt hält.«

      »Wir können aber nicht mehr länger warten, Narvek«, entgegnete der andere und hielt ihn entschlossen am Arm fest. »Der Mond ist fast verhüllt, wir müssen mit den Opferungen beginnen!«

      »Dann tut das!« Wütend riss Narvek sich los. »Sollte die Dreizehnte wirklich noch irgendwo hier sein, werden wir einen anderen Weg finden, sie darzubringen. Die anderen … in den Tempel!«

      Sein Gegenüber nickte, um einiges zufriedener, und rannte davon, um den Befehl weiterzugeben.

      Elouané jedoch hatte Ilmras Anweisung befolgt und war in gestrecktem Galopp davon und gen Norden geritten. Daher sah sie nicht, wie wenig später Flammen aus dem Wohntrakt und dem Tempel schlugen. Und sie hörte nicht, wie die darin eingeschlossenen Frauen zu schreien anfingen.

      

       Der Traum

      

      

       Der Baum war geborsten und troff vor Blut.

       Er ragte mitten aus einem einsamen, karg bewachsenen Hügel, umgeben von einer Mauer aus Nebel. Die Welt war grau, das Gras, die Rinde, als ob nie eine andere Farbe existiert hätte, geschweige denn jemand, der sich eine hätte ausdenken können. Nur das Blut, das über die gespaltene Rinde lief, war dunkelrot, fast schwarz, und es war, als fräße es sich durch das Holz, ein gieriger, fetter Egel auf seinem Weg zum schlagenden Herzen in den Wurzeln der Pflanze.

       Er selbst stand auf halber Höhe des Hügels, ohne zu wissen, wer er war oder was er hier wollte. Mit dumpfer Faszination beobachtete er, wie das Blut herabfloss, und hörte dem gequälten Knarren des Baumes zu, fragte sich, was passieren würde, wenn die dicke rote Flüssigkeit den Boden erreichte.

       Ein schauerliches Krächzen ließ ihn herumfahren; eine riesige Krähe saß hinter ihm, von waberndem Nebel umgeben, ohne davon berührt zu werden. Während er sie ansah, spreizte sie die Flügel und hüpfte davon, und im gleichen Moment wich der Dunst. Zerbrochene Steine und Hügel, kleinere als der, auf dem er stand, zeichneten sich ab, und er begriff: Ein Friedhof. Ohne es zu wollen, folgte er dem Vogel den Hügel hinab zwischen die Grabhügel. Es sah aus, als wäre der Ort seit langer Zeit verlassen; die Gedenksteine waren gesplittert und an vielen von ihnen rankte sich kränkelndes Unkraut empor. Bei jedem Schritt, den er machte, atmete der Boden, als träte er auf staubende Kissen, und ebenso gedämpft fühlte sich alles an.

       Die Krähe ließ sich auf einem besonders großen, aus schwarzem Granit gehauenen Grabstein nieder und drehte sich boshaft starrend zu ihm um.

       Schlafwandelnd näherte er sich dem Vogel, sicher wissend, dass er ihn nicht berühren wollte, aber unfähig, stehenzubleiben. Es war, als folgte er einem inneren Befehl, und je näher er kam, desto intensiver schien das Starren des Vogels zu werden. Er war noch etwa drei Schritte von dem Tier entfernt, als er weiteres Flügelschlagen

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