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zog sich Kirin die schwarze Rüstung über, die Aderuz für ihn herausgesucht hatte. Als er seine Herrschaft als Großfürst angetreten hatte, hatte er den Befehl erlassen, sämtliche Sklaven Aracanons freizulassen, was nichts anderes hieß, als dass er nach nur zehn Tagen Herrschaft bereits deutlich die Grenzen seiner Verfügungsgewalt aufgezeigt bekommen hatte. Aderuz hatte ihn zur Seite genommen und ihm in einem sehr langen Gespräch erklärt, was für Folgen ein solcher Befehl haben würde: Eine Massenrevolte unter den Vermögenden, Hungersnöte, Aufstände, randalierende, zügellose Massen auf der Suche nach Rache für Jahre und Jahre der Unterdrückung. Er hatte ihm ans Herz gelegt, ›die Zügel langsam zu lockern‹, denn: »Auch das fügsamste Pferd wird durchbrennen, wenn es in einem unbekannten Wald steht und die Kontrolle seines Herrn nicht mehr spürt.«

      Kirin war Herr über das größte und mächtigste Reich des Kontinents geworden, und nie hatte er sich machtloser gefühlt. Allerdings befürchtete er, dass sich das am heutigen Tag ändern würde; eine Audienz stand ihm bevor, bei der er Bittsteller und Gesandte anhören und Recht sprechen sollte, und davor graute ihm.

      Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken; auf seinen Ruf hin öffneten sich die Türflügel und ein Mann trat ein, dessen Anblick das erste echte Lächeln an diesem Tag auf Kirins Gesicht zauberte.

      »Exzellenz, seid Ihr fertig?« Der Teint des Eintretenden war so dunkel wie der der Arachinen, doch seine Augen waren grösser und runder und außerdem von einer leuchtend türkisblauen Farbe, sodass sie wirkten wie Halbedelsteine. Sein lockiges schwarzes Haar trug er in einem dicken Zopf, der ihm über seine Rüstung mit dem grüngoldenen Waffenrock fiel, und auf der Schnalle seines prächtigen Schwertgurtes präsentierten sich drei dunkelrote Türme mit goldenen Dächern. Diese Schnalle verkündete, dass er seine Ausbildung an der Militärakademie in Semja absolviert hatte, das Grün und Gold seiner Rüstung jedoch wies ihn als Sohn der Òrrowe-Inseln aus. Sein Name war Larniax, und er war gemeinsam mit vielen seiner Waffengefährten direkt von der Akademie in dieses Land gekommen, als die Kämpfe gegen Galihl in vollem Gange waren. Sesko Nàym, der Kirin während der Unruhen jener Zeit ein guter Freund geworden war, hatte ihn persönlich als Kirins Leibwächter und strategischen Berater ausgewählt, und ihm unterstand auch eine gute Hundertschaft aus ostländischen Kriegern und Beamten, die ihren Sitz im Fürstenpalast genommen hatte, nachdem der Rest der siegreichen Armee nach und nach abgezogen war.

      Larniax war von seiner Familie an die Akademie geschickt worden, als er noch ein Kind gewesen war, und hatte dann aus der Ferne zusehen müssen, wie sie alle einer nach dem anderen von einem schrecklichen Fieber dahingerafft worden waren. Kirin erinnerte sich deutlich an den Ausdruck in Seskos Augen, als dieser ihm davon erzählt hatte. »So schrecklich diese Geschichte für Larniax auch war, es macht ihn zu einem idealen Verbündeten; er kann sich selbst nur dienen, wenn er euch hilft, und hat keine Verwandten, die ihn von außen lenken oder versuchen könnten, Einfluss auf Euch zu nehmen. Er ist ein loyaler Gefährte und äußerst klug. Ihm könnt Ihr vertrauen.« Kirin hatte diesen Ratschlag bisher beherzigt und noch keinen Grund gehabt, ihn zu bereuen; Larniax war stets offen zu ihm gewesen, auch wenn seine eigene Meinung von der Kirins abwich, und hatte es sehr schnell geschafft, gemeinsam mit den verbliebenen Windreitergenerälen die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen.

      »Soweit man davon reden kann, bin ich es, ja.« Noch einmal strich sich Kirin übers Haar und schnallte sich dann seine Schwerter um; es waren elegante, leicht gebogene Einhänderklingen wie sie die Arachinen trugen, und wurden in Tragegurten am Rücken befestigt. Nachdem er die Riemen zugeschnallt hatte, nahm er sie einzeln heraus und betrachtete sie im aufgehenden Licht der Sonne: Herrliche Schwerter waren es, wenn auch ursprünglich nicht für ihn selbst hergestellt. Die Klinge, die er für gewöhnlich mit der linken Hand führte, hatte einst einem Windreiter gehört, den Rhùk auf Nardéz‹ Straßen getötet hatte, um Kirin das Leben zu retten. Er hatte die Gravur darauf entfernen lassen, die ihre Verbindung mit ihrem früheren Herrn betonte, sie jedoch bisher durch keine andere ersetzt. Das andere Schwert war einst unter dem Namen ›Nàrdarells Schatten‹ bekannt und gefürchtet gewesen und hatte Galihl Phalaér gehört. Kirin hatte den Auftrag gegeben, es umschmelzen und neu schmieden zu lassen, eine Anweisung, die dem verantwortlichen Schmied die Tränen in die Augen getrieben hatte. Doch das Schwert, das aus seiner Hand erstanden war, stand nach Kirins Meinung seinem Vorgänger in Punkto Schönheit, Schärfe und Balance um nichts nach, also hatte er keinen Anlass, den Verlust des berühmten Schwertes zu bedauern. Noch trug keines der Schwerter einen Namen, und Kirin hatte auch herzlich wenig Lust, sich einen auszudenken, wenn er sich doch so wenig tapfer und heldenhaft fühlte. Er seufzte, steckte die Schwerter weg und folgte Larniax zur Tür. Gemeinsam gingen sie einen langen, ganz mit schwarzem Marmor ausgekleideten Gang entlang, in dem überall Windreiter postiert waren. Larniax hatte zunächst überlegt, ob er die Präsenz der ostländischen Soldaten unter der Palastwache verstärken sollte, doch Aderuz hatte davon abgeraten, um die Arachinen nicht unnötig zu reizen. Kirin musste dem zustimmen; von seiner Bekanntschaft mit Rhùk wusste er nur zu gut, wie empfindlich Windreiter auf ausländische Soldaten reagierten.

      »Ihr seht müde aus«, bemerkte Larniax und musterte ihn aus den Augenwinkeln.

      Kirin ruckte mit dem Kopf. »Ich habe geträumt.«

      »Albträume?« Larniax hob neugierig die Augenbrauen.

      »Ich weiß es nicht genau. Ich kann mich nur noch an wenig erinnern … eine Krähe ist darin vorgekommen, und ein Baum … Aber mehr weiß ich nicht mehr.«

      »Von Krähen zu träumen ist normal, wenn der Tod einem so nahe war«, sagte Larniax. »Soll ich den Heiler bitten, nach einem Traumdeuter zu schicken? Die Leute hier glauben an die Bedeutung von Träumen, so hörte ich. Fast so wie in meiner Heimat, wo es eigens Tempel gibt, wo man hingehen und sich Rat holen kann.«

      Kirin musste unwillkürlich grinsen. »Traumdeutertempel? Und was erzählen die einem, wenn man von Brot geträumt hat?«

      Larniax schmunzelte ebenfalls. »Dass einem in Kürze Flügel wachsen und man ein Huhn wird, wahrscheinlich. Ich muss gestehen, ich habe mich nie ernsthaft für solche Dinge interessieren können.«

      »Ich auch nicht. Ich habe genug damit zu tun, was im wachen Zustand um mich herum passiert.«

      Larniax lachte auf, und einen Moment später passierten sie die hohen schwarzen Flügeltüren zum Thronsaal. Es war einer der größten Räume im ganzen Palast, und auch er war fast vollständig aus schwarzem Marmorgestein erbaut. Er war hoch wie eine Kathedrale, und bunte Glasfenster brachen das Sonnenlicht, ehe es hereinflutete, und zauberten düstere Muster auf Boden und Wände. Kirins Eingeweide zogen sich unwillkürlich zusammen; an diesem Ort war viel Böses geschehen. Er war hier beinahe gestorben, hatte Rhùk scheinbar tödlich verwundet zu Boden sinken sehen und schließlich Galihl zu Füßen des Fürstenthrones getötet, und was heute auf ihn zukam, würde wahrscheinlich nicht dazu beitragen, dass er den Raum mit positiveren Gefühlen verband.

      Eine Wache an der Tür stieß zweimal mit der Lanze auf den Boden.

      »Kniet nieder für den Großfürsten!«, hallte der Befehl laut und klar durch den Raum. Alle Menschen, die sich dicht an dicht zwischen den Säulen drängten, sanken in die Knie, als Kirin vorbeiging, und wie immer musste er gegen den instinktiven Drang ankämpfen, es ihnen gleichzutun. Er schritt an Larniax‹ Seite durch den Raum auf den Thron zu, den er seit dem Tag seiner Krönung aufs heftigste gemieden hatte, und ließ sich auch jetzt nur widerstrebend darauf nieder. Ihm war, als drückten sich Rücken- und Armlehnen wie Schwerter in seine Haut.

      Larniax stellte sich schweigend hinter dem Thron auf, Seite an Seite mit Asusza, die auch ihn um einen halben Kopf überragte.

      Kirin holte tief Luft und hob die Hand zum Zeichen, dass sich alle wieder erheben durften. Die Menge gehorchte, und einen Augenblick musterte Kirin die vielen Gesichter, von denen manche aufgeregt, andere anklagend und wieder andere gleichgültig wirkten. Einige Leute trugen teure Kleider und Schmuck und sahen nach Hofschranzen aus, andere wiederum wirkten abgerissen und gezeichnet. Wer waren all diese Menschen, fragte er sich, und was führte sie hierher? Waren sie Freunde oder Feinde? Abwartend drehte er sich nach links, wo er, wie er wusste, Aderuz hinter dem Fürstensessel stehend finden würde. Der Heiler trat vor,

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