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dem Augenblick, als sie die Tafel in die Hand nahm, knallte es. Ilmra zuckte zusammen; das Geräusch war von draußen gekommen, vom Tempelhof, und es war der eigentümlichste Laut, den sie seit Jahren an diesem Hort des Friedens gehört hatte: Wie das Krachen einer Axt auf Holz. Verwundert trat sie ans Fenster, konnte jedoch weit und breit nichts Ungewöhnliches entdecken; der sandige Innenhof lag unter ihr wie immer, nur von spärlichem Mondlicht erleuchtet, und außer einer streunenden Katze war niemand zu sehen. Vielleicht war nur irgendwo in der Küche etwas zu Boden gefallen.

      Dann folgte der zweite Knall, und diesmal konnte es keinen Zweifel geben, woher er kam; während sie noch hinsah, erbebte das Hoftor so heftig, als ob jemand mit einem Rammbock dagegen schlüge. Ilmra wich zurück, doch bevor sie mehr tun konnte, als sich mit der freien Hand ans Herz zu greifen, sprang das Tor auf und eine Horde Gestalten ergoss sich in den Hof, ein Gewimmel aus langen Umhängen, und verglichen mit dem Krach, den sie zuvor gemacht hatten, bewegten sie sich geradezu unheimlich lautlos.

      Ein Überfall, dachte Ilmra panisch, eine Gruppe herrenloser Krieger oder Raubritter, die sonst Reisende ausraubten und ermordeten, und die nun offenbar auch vor einem heiligen Ort nicht mehr Halt machten. Kopflos fuhr sie herum und rannte den Gang entlang zu den Gemächern der Ordensmutter, doch noch ehe sie fünfzig Schritte getan hatte, stand Lenidar schon vor ihr, vollständig angezogen, als hätte auch sie sich noch nicht zur Nacht hingelegt; ihre sonst verschleierten Augen blickten unerwartet klar und scharf.

      »Ich weiß«, sagte sie, noch ehe Ilmra ein Wort hervorbrachte.

      »Wer sind diese Leute?«, stammelte Ilmra. »Was wollen sie?«

      »Das gedenke ich gerade herauszufinden«, erklärte Lenidar mit einer Ruhe, die selbst ein flüchtendes Pferd zum Stehen gebracht hätte. »Aber ich bezweifle, dass es etwas Gutes ist. Sieh.«

      Ilmra trat neben die Ordensmutter ans Fenster und sah mit schreckgeweiteten Augen dabei zu, wie die beiden Türwächterinnen von den Fremden aus dem Torhäuschen gezerrt und in den Innenhof bugsiert wurden; einer der Männer schrie irgendetwas, während andere wie Aasfliegen ausschwärmten und auf die Türen des Wohntraktes zustürzten.

      »Geh und sammle unsere Schwestern ein, so viele wie möglich! Führ sie zur Magdpforte an der Rückseite des Tempels und bring sie fort von hier!«

      »Ehrwürdige Lenidar«, keuchte Ilmra, die Hand unbewusst noch immer um die Wachstafel geklammert, »was hast du vor? Was willst du tun?«

      Lenidar straffte sich; sie war alt, fast siebzig, aber in diesem Augenblick strahlte ihr Gesicht die Erhabenheit und Weisheit einer wahren Führerin aus, und als sie wieder sprach, erstickte ihre Stimme die heiseren Schreie draußen auf dem Hof: »Wer immer diese Männer sein mögen, sie tragen das Böse mit sich. Das spüre ich. Sie haben zwei Mitglieder meines Ordens angegriffen. Ich werde sie nicht ihrer Gewalt überlassen. Bevor der Schäfer zulässt, dass einem aus seiner Herde etwas geschieht, stürzt er sich selbst in den Rachen des Wolfes. Und das tue ich auch.«

      Instinktiv umklammerte Ilmra ihre Hand, doch Lenidar entwand sie ihr umstandslos und machte das Zeichen der Drei über ihrer Stirn. »Geh und wecke die Schwestern! Beeil dich!« Und damit wandte Lenidar sich um und ging hoch aufgerichtet den Gang entlang und den Eindringlingen entgegen. Aus der Richtung, in die sie ging, waren schon wieder die schrecklichen Schläge zu hören, an der Tür des Wohntraktes diesmal. Ilmra hatte bei keinem der Männer einen Rammbock oder etwas Ähnliches gesehen und fragte sich bang, womit sie da wohl auf das Holz einschlugen.

      Mit Schmerzen in der Brust fuhr sie auf dem Absatz herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo sich die Schlafsäle der Novizinnen befanden. Zuallererst musste sie die Mädchen retten; es waren solche unter ihnen, die noch nicht dem Kindesalter entwachsen waren, und was immer diese Männer mit ihnen vorhatten, sie würde nicht zulassen, dass eine von ihnen es erleiden musste. Sie rannte den Gang entlang und um die Biegung, doch noch ehe sie sie hinter sich gebracht hatte, wusste sie, dass sie zu spät sein würde: Der furchtbare Lärm von splitterndem Holz drang ihr entgegen und einen Herzschlag später folgte das Kreischen junger Frauen. Ilmra bog um die Ecke und verharrte, maßlos entsetzt: Die Tür zum Novizinnensaal war aus den Angeln gerissen worden und lag in Stücke gebrochen im Gang. Zwei dunkle Gestalten lauerten im Türrahmen und zerrten, offenbar verstärkt von weiteren Eindringlingen, die sich im Inneren des Schlafsaals befanden, die weinenden Mädchen hinaus in den Flur. Eine von ihnen wurde mit solcher Gewalt am Arm nach vorne gerissen, dass sie stürzte und sich dabei die Hände aufschlug; mit Tränen in den verständnislos geweiteten Augen blickte sie auf – und sah Ilmra.

      »Erste Schwester!«, rief sie verzweifelt, »Erste Schwester, hilf uns!«

      Es war Lyda. Ihr Nachthemd war halb zerrissen, ihr Kindergesicht von Schlaf und Angst verquollen, und ihre hohe Stimme verriet Ilmra, die nur einen Steinwurf entfernt von ihr stand und nichts tun konnte. Die Männer an der Tür wirbelten herum. Einer von ihnen brüllte etwas in einer Sprache, die Ilmra noch nie gehört hatte und die ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Entgegen all ihren Instinkten, die ihr befahlen, zu den Mädchen zu laufen und sie zu beschützen, rannte sie los, den Korridor entlang zurück, einen winzigen Hoffnungsschimmer im Hinterkopf, der jedoch zerstört wurde, sobald sie die Schritte ihrer Verfolger hinter sich hörte. Sie rannte schneller, doch ihr war klar, dass sie nicht würde entkommen können; sie war eine magere Frau mittleren Alters, die den größten Teil ihres Lebens damit verbracht hatte, zu beten und Vorratslisten zu schreiben, und die Männer hinter ihr holten mit jedem Lidschlag auf.

      Allerdings, wenn ihr Plan aufging, brauchte sie nicht mehr lange davonzurennen; mit der Kraft der Verzweiflung steigerte sie ihr Tempo und hetzte um eine weitere Biegung. Die Männer waren ihr mittlerweile so nahe, dass sie sie beinahe berühren konnten, doch ehe einer von ihnen die Hand nach ihr ausstreckte, warf sie sich ohne Vorwarnung zur Seite gegen einen Wandbehang aus dunklem Fell. Statt jedoch gegen blanken Stein zu prallen, stieß ihre Schulter auf eine schmale, hölzerne Tür, die bei dem Aufprall aufflog und einen Tunnel dahinter freigab. Ihre Verfolger, völlig überrascht, trudelten noch ein paar Schritte weiter, ehe sie anhielten und ihr wieder nachsetzten. Doch Ilmra war bereits durch die Tür gesprungen und hatte sie fest hinter sich verschlossen. Keuchend klammerte sie sich einen Moment lang an den Türgriff und starrte auf die uralten Runen, die schon in das Holz geschnitzt worden waren, als Uvonagh noch in den Kinderschuhen gesteckt hatte. Schutzsprüche sollten es sein, gefertigt gegen alles Böse.

      Nur, was halfen sie ihnen jetzt?

      Wütende Stimmen erklangen hinter der Tür, wieder ertönte das unerklärbare Poltern, nur viel leiser als zuvor, und fast im selben Moment glühten die Runen in der Tür auf. Ilmra hörte einen der Männer vor Schmerz aufschreien und zuckte zurück.

      Die Tür hielt stand.

      Das genügte, um Hoffnung in ihr aufkeimen zu lassen; ein leises Dankesgebet für den Lichten murmelnd, drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte weiter. Der Gang, in dem sie sich jetzt befand, war anders als diejenigen im Wohntrakt: Eng, niedrig und aus dem rohen Stein herausgehauen, diente er als eine Art Geheimgang, ein Fluchtweg für den Fall, dass dem Ordenshaus einmal Gefahr drohen sollte. Ilmra erinnerte sich verschwommen, dass sie den Gang früher für bloße Platzverschwendung gehalten hatte, dass sie bei der Ordensführerin sogar mehrmals darum gebeten hatte, ihn zumauern lassen zu dürfen, weil sich immer wieder Novizinnen darin versteckten oder heimlich nächtliche Ausflüge machten. Wie dankbar war sie Mutter Lenidar, dass sie nicht auf sie gehört hatte. Kurz und äußerst schmerzhaft verkrampfte sich ihr Herz bei dem Gedanken daran, was der alten Frau schon alles widerfahren sein konnte, dann gelangte sie ans Ende des Ganges; mit einem leisen Knarren öffnete sie die oben spitz zulaufende Holztür, zog den rostigen Schlüssel aus dem Schlüsselloch und verschloss sie hinter sich. Sie wusste nicht, wie lange sie ihre Verfolger so aufhalten würde, aber sie wollte es ihnen nicht zu einfach machen. Erschöpft und mit rasend pochendem Herzen sah sie sich um: Sie war in der Andachtshalle, nur ein paar Schritte entfernt von der Steinbank, auf der sie Stunden zuvor gesessen und sich Gedanken über lächerliche, alltägliche Dinge wie die Ernennung von Novizinnen gemacht hatte. Wie sehr sie sich jetzt dafür verachtete.

      Ihre Augen flackerten durch den Tempel auf der Suche nach Angreifern und blieben unwillkürlich

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