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Bestimmt zweihundert nahezu nackter Jugendlicher warteten vor der Tür aufgereiht, zitternd und so durchgefroren, dass man selbst in dem fahlen Licht des Clubs das Blau ihrer Haut erkennen konnte, auf Einlass. Ein Feuerschlucker unterhielt die Clubgänger mit Feuerfontänen, hatte aber große Schwierigkeiten den Feuerstrahl in den extremen Windverhältnissen zu kontrollieren.

      1 Dritter Tag (Freitag, der 5. April)

      Am frühen Morgen kroch Emil auf dem Teppich herum und schob Plastik-Fußballfiguren hin und her, die er sich aus London mitgebracht hatte. Als der kleine Ball unter das Bett rollte, sollte ich ihn wieder hervorholen. Ich blökte ihn an. Aber damit war es mit dem Schlaf vorbei, denn er wälzte sich heulend auf dem ekligen Teppich hin und her, bis ich es endlich täte. Ich entschied, dass es sich nicht lohnte zu kämpfen und fischte den Ball unter dem Bett hervor und gab ihm ihn schimpfend zurück. Er zog einen Flunsch und spielte weiter. Eine halbe Stunde später, bei einer Zeichentrickserie, irgendeine dünn gestrickte Weltallgeschichte mit Strahlenpistolen und Aliens, zogen wir uns an. Dann warteten wir noch weitere zehn Minuten bis um acht, da ich nicht zu früh zum Frühstück erscheinen wollte, denn ich wollte mir nicht den Unmut des Inhabers zuziehen. Also glotzten wir weiter den Schwachsinn. In der ersten Sekunde einer Reklame gingen wir dann doch hinunter. Die Furcht zu früh zu sein, war völlig unberechtigt gewesen, im Gegenteil, es schien, als hätte der Hausherr den Leuten unterschiedliche Frühstückszeiten angegeben, denn gerade verließ ein Mann fertig gegessen seinen Tisch und ging die Treppe hinauf, um nun wahrscheinlich das Badezimmer zu überschwemmen. Ein anderes Pärchen bezahlte und schleppte Koffer zum Auto auf dem Parkplatz gegenüber. An dem einzig schönen Tisch des Frühstückszimmers vor der Scheibe zum Meer, also unserem Tisch, denn schließlich hatten wir ihn am Morgen zuvor präokkupiert, saßen zwei Frauen in dicken Socken und sonst nur mit Altmännerpyjamas bekleidet. Wir setzten uns an einen der mickrigen Tische an der Wand. Um hinauszusehen, musste ich an den beiden Frauen vorbeisehen. Sie unterhielten sich in der Taubstummensprache und die eine hatte unter dem Tisch ihre Füße auf den Schoß der anderen gelegt, die diese, wenn sie gerade nichts mit den Händen sagte, massierte. In dieser etwas befremdlichen Atmosphäre kam der Wirt, fragte, was wir essen wollten und brachte mir Tee und Emil heißes Wasser in den ich, weil die Pension darüber nicht verfügte, wie am Vortag, einen von mir mitgebrachten Pfefferminzteebeutel hineinsinken ließ. Erst jetzt realisierte ich, dass die Holzvertäfelung, die bis zur Hälfte an der Wand angebracht war, frisch hellblau übergestrichen war, was der Hauswirt als wir in Southwold gewesen waren, gemacht haben musste. Ich schnupperte, aber nur ein winziger Hauch Farbgeruch war zu vernehmen. Über den Sockel hatte er blasse Aquarelle, die Dünen- oder Meermotive zeigten, in geweißelten Rähmchen aufgehängt. Ein Heizlüfter unterstützte den Heizkörper, der mit dem Durchzug durch das Schiebefenster überfordert war. Warm war es trotzdem nicht.

      Wir brachten das Frühstück schnell hinter uns, machten uns fertig für den Tag und verstauten all unser Zeug in die Rucksäcke, da wir am Abend nach London zurückkehren wollten. Emil hatte große Angst etwas zu vergessen und ich musste mit ihm mehrfach alles durchgehen: drei Kuscheltiere, 22 Plastik-Spielfiguren, ein Bällchen, zwei Tore, zwei Bücher: ‚Horrid Henry and the Football Fiend‘ und Kalle Blomquist auf Deutsch. Er war strickt dagegen, die Rucksäcke den Tag über im Bed and Breakfast zu lassen. Ihn vom Gegenteil zu überzeugen, kostete mich einige Nerven. Er vergoss viele Tränen. Aber das war eine Sache, in der ich nicht nachgeben wollte, denn es würde die Qualität des Tages, um so vieles anheben. Die Verhandlungen mit dem Inhaber verliefen dagegen reibungslos. Er war sofort damit einverstanden, dass wir unser Gepäck daließen und überließ uns sogar weiterhin einen Haustürschlüssel, nur für den Fall, dass er später nicht zu Hause wäre.

      An diesem Tag blies der Wind nicht ganz so stark und die Sonne schien. Auch wenn es nur ein oder zwei Grad waren, ließ es sich gut in den wärmenden Strahlen laufen. Wir gingen auf der Promenade entlang, bis zu einer Statue von Triton, der ein Schneckenhorn mit herausquellenden Früchten in seinen Armen hielt. Eine Tafel informierte darüber, dass die Statue von John Thomas 1850 gemacht worden war. Absurd war daran nur, dass praktisch die gleiche Skulptur noch einmal auf dem Hauptplatz am Southpier stand, bloß dass dort Triton das Schneckenhorn im anderen Arm hielt. Dies hier war wie eine gespiegelte Kopie - lediglich 200 Meter entfernt. Nach diesem Erlebnis der Verdoppelung, bei der Emil sich auf einer Mauer niedergelassen hatte und versucht hatte Möwen anzulocken, spazierten wir einen Weg entlang bis zur ‚Pakefield Church‘, einer tausend Jahre alten Kirche, die angeblich auf einer anderen Kirche aus dem Jahr 406 errichtet worden war. Sie hatte nach dem zweiten Weltkrieg ein neues Dach bekommen, da das alte durch Bomben zerstört worden war. Sie lag idyllisch, nahe am Meer, umgeben von ein paar Palmen und einem alten Friedhof. Diese Atmosphäre, die natürlich auch schon Sebald gefesselt hatte, ließ uns eine Weile manieristisch zwischen den eingesackten Gräbern herumstreunen, deren Steine völlig schief standen. Leider konnten wir nicht in die Kirche, weil an diesem Morgen eine Spielgruppe für Kinder unter fünf Jahren stattfand, die, und das kannte ich schon aus London, einfach mitten in der Kirche Spielzeug aufgebaut bekommen hatten und darin herumtoben konnten. Gleich hinter der Tür hatten die Mütter eine Kinderwagenbarrikade errichtet und versahen uns durch die quadratischen Fensterchen mit frostigen Blicken.

      So gingen wir weiter einen bezaubernden Weg am Meer entlang, vorbei an kleinen Fischernachen und Hüttchen, weiteren, der sich im Wind beugenden Palmen, bis zu einer kleinen Ansammlung von Ferienhäusern und Caravans. Darunter war auch ein alter Eisenbahnwagon mit einem angebauten Wintergarten und einem Signal und ich musste Emil die Geschichte vom fliegenden Klassenzimmer erzählen, die er noch nicht kannte. Aber mir schwirrte eigentlich nur die Filmversion mit Fuchsberger als Dr. Bökh (gen. Justus) im Kopf herum und nicht das Buch, was mich wurmte.

      An einem chromoxidgrünen Caravan putzte ein kleiner Mann ein Fenster zum Meer, dahinter saß eine unglaublich dicke Frau auf einem Sofa, das sie in fast voller Breite einnahm und gab lautstark Anweisungen, wo noch Schlieren zu beseitigen seien. Ich erkundigte mich bei ihnen, ob es oben auf der Klippe ein Weg Richtung Kessingland gebe. Der Mann wusste von gar nichts und die Alte keifte, dass wir umkehren und unten am Strand entlang gehen müssten. Die Frage, wie lange es denn bis Kessingland dauern würde, konnten beide nur unzureichend beantworten, sicherlich, weil sie diese Strecke noch nie bewältigt hatten.

      Am Meer war es menschenleer. Wir mühten uns durch hohen Kies, in den wir mit jedem Schritt und einem knirschenden Geräusch tief einsanken. Die See auf der linken Seite brauste stahlgrau. Rechts waren zerklüftete Klippen aus ockerfarbener Erde. Auf der Klippe wuchs ein winterlich kahles Gestrüpp, braun, was einen interessanten Kontrast zum Gelb der Erde abgab. Eine Menge Müll hauptsächlich Plastikmüll lag herum, was mich ja schon auf unserem Ausflug nach Norden deprimiert hatte. Auch hier lugten einige Bunker, mit grimmigen Gesichtern über das Meer und ich fragte mich, ob diese Anordnung der Schießscharten als Augen von den Konstrukteuren ein beabsichtigtes Konzept gewesen war.

      Nach ungefähr zwei Kilometern weitete sich der Strand, die Kieselsteine wurden kleiner und es gab kleine Inseln mit Dünenvegetation. Emil begann zu maulen, weil das Gehen beschwerlich war und ließ sich bald weit zurückfallen, hockte sich hin und wühlte herum. Ich wartete auf ihn und als er mich eingeholt hatte, ermutigte ich ihn, besondere Steine zu suchen, also von besonderer Form oder Farbe oder abgeschliffenes Glas. Er fand aber fast alle gut und händigte sie mir aus, damit ich sie in meine Parkatasche steckte. Ich traf eine Auswahl und ließ den Rest heimlich wieder fallen. Große Brocken diskutierte ich. Als eine Holztreppe auftauchte, stiegen wir die Stufen hinauf. Von oben konnten wir sehen, dass Kessingland gar nicht mehr weit weg war und wir folgten einem Pfad. Er führte über Felder um einen Bauernhof herum, dessen Bewohner wohl etwas dagegen hatten, wenn Touristen vor ihrer Nase vorbeistiefelten. Ist es eigentlich richtig, dass es Leute gibt, die einen alleinigen Zugang zum Wasser oder zum Blick auf das Wasser (egal ob Fluss, See oder Meer) haben? Sollte nicht ein Streifen von mindestens 100 Metern weltweit unverkäufliches Allgemeingut sein? Verboten gehörten auch alle Straßen an der Küste entlang und natürlich (kostenpflichtige) Parkplätze mit Blick aufs Meer. In einem Miniwaldstück kurz vor Kessingland trafen wir auf eine Gruppe Rehe, die verdaddert und wie angewurzelt stehen blieben und uns beäugten.

      In Kessingland führte ein Weg wieder hinunter auf eine Betonpromenade. Als wir einige Häuser sahen, versprach ich Emil, dass es sich um

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