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das Wasserglas, kippte es etwas nach vorne, ganz ohne es anzuheben, und schlürfte.

      „Ja“, sagte ich auf Englisch, „Osterferien. Und der Sohn hier ging mir zu Hause ganz schön auf die Nerven, nicht wahr?“ Ich lachte Emil zu und der nickte sogar zustimmend. „Also dachte ich, wir fahren ein bisschen an die See.“ Sebald erwähnte ich lieber nicht, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, etwas über den Schriftsteller und seine Bücher erzählen zu müssen.

      „Woher kommt ihr?“ bohrte George weiter und ich erklärte, dass wir Deutsche seien, aber schon seit 15 Jahren in London wohnten, und dass ich ein Doppelleben als Maler und Deutschlehrer führe.

      „Wie kommt ihr nur darauf, nach Lowestoft zu kommen“, sagte er kopfschüttelnd und schenkte dem Gigolo drei Gin-Tonic ein. Der Fußballinteressierte bekam noch ein Lager vom Fass und ich noch ein Bitter. Dann lehnte George wieder seine Ellenboden auf den Tresen und ich erzählte, dass ich gerne die englische Küste erkunde und sowieso ein Liebhaber vom Meer sei und Ostern eine gute Gelegenheit sei, etwas von England zu sehen. Im Sommer führen wir dagegen lieber nach Südeuropa, wie ja wohl alle Familien mit Kindern, um richtigen Strandurlaub zu machen. Ich beklagte die langen Planungsphasen für die Sommerurlaube und dass ich alljährlich ab Januar verärgert sei, da man an die Schulferien gebunden sei und deshalb sich spätestens im Januar um einen Sommerurlaub im August kümmern müsse. George lachte. Des Weiteren beklagte ich mich, dass die Kinder in diesem Alter Gewohnheitstiere seien, mit denen ein Herumtouren noch nicht das Richtige sei, da sie am liebsten eine Strandroutine hätten, wo sie immer vom gleichen Kiosk ein Schokoladeneis bekämen. Außerdem sei der Mittelmeerraum für mich im August zu heiß und alles an Ostsee und Nordsee sei ja wohl ohne Wettergarantie und die Vorstellung bei Regen sich zwei Wochen in einer engen Ferienwohnung auf der Pelle zu hocken, sei das schlimmste vorstellbare Szenarium. George lachte einfach wild drauflos.

      „Wohin wollt ihr also diesen Sommer?“ fragte er, als er wieder Luft bekam.

      „Letztes Mal waren wir in der Bretagne, was uns nicht gefallen hat, weil man als Nicht-Autofahrer nicht herum kommt“, erwiderte ich, „und diesmal wird es deshalb die Costa da Morte in Galicien.“ Georges Armmuskeln zuckten daraufhin ganz komisch, was die eh schon bis zum Äußersten gedehnten Ärmel an seinem T-Shirt tief in die Haut einschneiden ließ.

      „Ich bin früher zur See gefahren“, sagte er, „2005 hatte es mich nach Galicien verschlagen. Auf einer Sauftour durch A Coruña mit einem Freund, übrigens auch ein Deutscher, haben wir noch einen Deutschen kennengelernt, der viele Jahre in London gelebt hatte. Ein schrulliger Typ, älter als du. Eines Tages hatte er in einer Zeitung gelesen, dass in Galicien ein gesamtes Dorf zum Verkauf stand. Da hat er kurzerhand sein Haus verkauft...“ Er unterbrach, weil ich sagte:

      „Wow! Er hat tatsächlich für sein Haus ein ganzes Dorf gekriegt? Das ist ja Wahnsinn! Die Probleme fingen aber dann erst an, oder?“

      „Ja, er war mit einigen Freunden hingezogen. Sie haben es Alchera genannt. Ich muss ja sagen, unter einem Dorf stelle ich mir was anderes vor, wenigstens einen Laden oder eine Kneipe, oder? Dieses war doch nur ein riesiger Bauernhof mit fünf oder sechs vereinzelt stehenden Gebäuden und ein paar Scheunen. Alles reichlich verfallen und die Bewohner der umliegenden Dörfer waren auch eher feindselig gesinnt. Aber als mein Kumpel und ich dort verkatert aufwachten, hatten wir eh unser Schiff verpasst. So sind wir eine Weile geblieben und haben geholfen. Es waren alles Künstler, von überall aus Europa. Sie hatten vor, einen Ort zu schaffen, an dem sie ernsthaft arbeiten konnten.“

      Hintereinander stolperten drei Frauen zur Tür herein. Eine kleine, dickliche, die sich betrunken von Stuhllehne zu Stuhllehne hangelte, eine große, die ihre Stöckelschuhe am Riemen in einer Hand hielt, einen ultrakurzen Rock mit der anderen Hand nach unten zog und barfuß über die Dielen watschelte und eine Rothaarige, die oben herum nur so etwas wie einen BH trug und sonst eine hautenge Jeansshorts, aus der ihre Schenkel hervorquollen. Sie wurden gefolgt von einem Mann, der sich als Taxifahrer entpuppte und den der Gigolo bezahlen musste. Gleich danach kaufte der Gigolo für alle fünf Frauen, die sich nun lautstark begrüßten und austauschten, ‚Jägerbomb‘. George stellte dazu sechs Gläser mit Red Bull und ein leeres nebeneinander auf. Auf die oberen Glasränder stellte er kleine Gläser gefüllt mit Jägermeister. Die Frauen und der Mann versenkten das Gläschen mit dem Likör in das Aufputschgetränk, kippten die Mixtur auf ex hinunter und stampften die leeren Gläser scheppernd auf den Tresen. Anschließend spielten sie halbherzig Billard und verschwanden laufend auf die Damentoilette, mal mit dem Gigolo, mal mit einer Freundin, mal alleine. George erzählte weiter:

      „Manche Leute des Dorfes arbeiteten intensiv an ihrer Kunst. Ich meine, ich verstehe ja davon nichts, aber manches sah ganz brauchbar aus. In enthusiastischen Meetings diskutierten sie und wollten eine neue Kunstströmung ins Leben rufen. Sie glaubten an die Idee, ihre kreative Energie bündeln zu können. Andere wiederum ließen sich völlig gehen und machten überhaupt nichts. Mit der Zeit hausten einige wie Eingeborene. Das war mir zu abgedreht und erinnerte mich zu sehr an die Hippiedörfer, wie es sie in den Achtzigern am Mittelmeer, überall wo das Land aufhörte, gegeben hat. Das war irgendwie traurig mit anzusehen“, sagte er. Mit einem Nicken forderte er die Frau ohne Schuhe auf, ihren Bestellungswunsch loszuwerden. Sie bestellte umständlich Apfelwodkas und lehnte sich dabei ein klein wenig nach vorne und ihr wirklich zu kleiner Stretch-Rock rutschte über ihr Hinterteil nach oben. Schockiert stellte ich fest, dass sie darunter überhaupt nichts anhatte. Ihre Vagina hing wie ein rosafarbener Teil eines Zierkürbisses zwischen ihren Beinen. Schnell blickte ich zu Emil, der aber zum Glück ein neues Tor von Chelsea feierte. Der Gigolo bemerkte nun auch, was los war und stellte sich hinter sie. Dabei versuchte er den Rock nach unten zu ziehen. Sie kreischte und wehrte sich gespielt, aber dieses Gummi durchzogene Kleidungsstück schnellte sowieso immer wieder hoch. Schließlich forderte er sie ernsthaft auf es festzuhalten, was sie dann auch kurz mal machte. George schüttete unterdessen eine schrillgrün leuchtende Flüssigkeit, mit einem geeichten Metallbecherchen die Menge abmessend, in Wassergläser um. Die anderen Frauen kamen an die Theke getorkelt und gemeinsam stürzten sie auch dieses Getränk ihre Kehlen hinab. Zu allem Überfluss hantierte die betrunkene, kleine Frau nun auch noch mit einem komischen Minidildo herum, den sie, wie sie lautstark verkündete, für fünf Pfund aus einem Automaten auf der Toilette gezogen habe. Etwas mulmig zumute las ich auf den Bildschirmen ab, wie lange die Spiele denn noch gingen. Sie befanden sich zum Glück alle in den Nachspielzeiten. Emil bestand aber darauf, auch noch die Resultate aufschreiben zu wollen. Ich sagte zu ihm, dass er mal wieder kein Ende finden könne und er sich gefälligst beeilen müsse und händigte ihm seine Mappe mit seinen Malblättern aus. Er malte darauf seelenruhig mit einem schwarzen Filzstift: Chelsea gegen Rubin Kazan 3:1 (Halbzeitergebnis 2:1), Tottenham Hotspur gegen FC Basel 2:2 (Halbzeitergebnis 1:2), SL Benfica gegen Newcastle United 3:1 (Halbzeitergebnis 1:1) und das Ergebnis des vierten Spiels, das eingeblendet worden war: Fenerbahçe gegen Lazio Roma 2:0 (Halbzeitergebnis 0:0).

      „Wer kommt denn nun weiter?“ erkundigte ich mich ungeduldig und auf Englisch um George nicht von dem Gespräch auszuschließen.

      „Das war doch erst das Hinspiel“, sagte Emil vorwurfsvoll. Entgeistert sah ich ihn an und George lachte ein dreckiges Boxerlachen. „Es kann doch nicht sein, dass all diese Spiele noch einmal in einer Rückrunde gespielt werden müssen!“ rief ich. Eine der Frauen hatte derweil umständlich ihre zehn Zentimeter hohen Stöckelschuhe angezogen und, sich gegenseitig abstützend, verließen die Sechs unvermittelt das Lokal.

      „Jetzt ist aber wirklich Schluss“, fuhr ich Emil verärgert an, denn es konnte doch nicht angehen, dass wir länger als diese Trink-Gesellschaft in einer Kneipe waren. Das hatte sehr rigoros in die entstandene Stille geklungen und Emil händigte mir, „Naa guut“ knurrend, seinen Malblock aus.

      „Ich heiß‘ übrigens Peter, war nett dich kennenzulernen“, sagte ich zu George und Emil raffte sich zu einem langgezogenen „Bye“ auf.

      „Ja“, sagte George auf Deutsch mit einem starken, englischen Akzent, „schön Urlaub.“

      Ich wickelte Emil wieder in seine Klamottenschichten ein, setzte ihm die Schapka auf und puffte ihn zur Tür raus. Wieder einmal peitschte uns Schnee waagerecht ins Gesicht und wir kämpften dagegen

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