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Zeitschriftenhändler oder Bäckereien oder so etwas, sondern sehr viele Secondhandshops, betrieben von Wohltätigkeitsorganisationen, die gesammelte Kleidung, altes Geschirr, gebrauchte DVDs oder veraltete Computerspiele anboten, oder Wettbüros, drittklassige Billig-Modegeschäfte und Fast-Food-Läden. Eine Skulptur am Anfang der Fußgängerzone, die sich ‚London Road‘ nannte, fiel mir besonders ins Auge: stählerne Schwäne im Flug, aber eben doch an das Gestänge angeschweißt, was irgendwie auf den verzweifelten Wunsch von diesem Ort wegzukommen hinzudeuten schien.

      Wir unternahmen also einen Fluchtversuch und gingen schnurstracks an der anderen Seite wieder aus dem Ort hinaus, an einer Lagerhalle mit Teppichauslegeware vorbei, Richtung Meer, einem kleinen braunen Schild folgend, auf dem ‚Ness Point‘ stand, was, wie ich zufällig wusste, der Name des östlichsten Punkts Britanniens ist.

      Es war aber gar nicht so leicht dort hinzukommen, denn wir waren in ein langläufiges Industriegebiet geraten, mit Fabrikhallen, einer Fischfabrik für Fischstäbchen, einem hellblauen Gaskessel, einem Windrad, Schotter, dann einer Landschaft aus Beton: Betonpfeilern – immer mehr Betonpfeilern, einer Betonpromenade und einem merkwürdigen Betonturm. Ohne Erfolg suchten wir den ‚Ness Point‘, aber selbst um zwei Uhr nachmittags war keine Menschenseele zu sehen, die einem hätte weiterhelfen können. Später fand ich durch Nachforschungen im Internet heraus, dass wir den eigentlichen Punkt verpasst hatten, ich nehme an, weil er an diesem stürmischen Tag von Wellen überspült war und er somit gar nicht zu sehen gewesen war.

      Wir lungerten also eine Weile bei diesem kargen, runden Klotz herum, der sechs Meter dick und zwölf Meter hoch war und an dem sich ein Metallstab nach oben drehte, bis er oben, in einem obszönen Winkel abstehend, zwei Meter in die Luft Richtung Meer zeigte. Weil keine Tafel oder so etwas angebracht war, rätselte ich, ob es sich bei diesem ‚Monument‘ um einen Gasturm oder etwas Militärisches handeln könnte, oder ob es eine Skulptur war, bei der der Künstler einen Walpenis im Sinn gehabt haben musste. Wieder half mir später das Internet weiter: Dieses ‚Ding‘ war von einem Künstler Namens ‚Christopher Tipping‘ zwischen 1999-2001 konstruiert und errichtet worden. Ein Eintrag in das ‚Recording Archive for Public Sculpture in Norfolk & Suffolk‘ von 2007 lautete: “The Sculpture at Ness Point is in an incomplete and reduced state, consequently conveying ideas of contemporary decay more than intended commemorative and geographical values. The absence of the inscribed glass plate, designed to encourage contemplation on what it means to stand at Britain's most easterly point, means that the purpose and meaning of the sculpture is extremely unclear and the work as a whole effectively invisible. The rising concrete blocks or ramps in the parking area are intended to convey the coastal scour, but again this is obscure. (...) The spiralling pipe on the tower relates to the gasometer and emissions towers in the industrial estate consistent with the brief to convey 'the nature of the site'” Das spiegelte genau meine Konfusion wider.

      Wir spazierten auf der breiten Promenade entlang, die mit Betonplatten gepflastert war und die wegen der Gumminähte, die die Platten miteinander verband, an die Transitstrecke durch die DDR zwischen Magdeburg und Berlin erinnerte (also genaugenommen an die Reste der Reichsautobahn). Die Promenade führte kerzengerade ein, zwei Kilometer geradeaus, bis sie, wie ich vermutete, einfach aufhörte. Sie war so breit, dass zwei Lastwagen hätten aneinander vorbeifahren können. Hohe Wellen schlugen auf massive geometrisch geformte Betonbrocken, die in der See lagen und das Wasser spritzte in Fontänen bis hoch und manchmal bis weit über die Promenade. Das Meer war hellbraun vom aufgewühlten Schlamm, als wäre es voller Beton und auch weiß, weil das Wasser zu Schaum geschlagen war. Wieder preschte eine Welle hoch und ich riss Emil noch nach hinten, aber zu spät, das Wasser erwischte uns voll und schoss bis auf den Schotterparkplatz für Betonmixer auf der anderen Seite. Es war durch Emils Strumpfhose und Jeans, die er wegen der Kälte übereinander trug, und durch seinen dicken Wintermantel gegangen. Klitschnass eilten wir weiter. Der eisige Wind blies heftig und ich hoffte, dass es keine Spätfolgen hätte, wenn wir die Sachen im Weitergehen in der Nachmittagssonne und im Wind trockneten.

      An einem Platz mit Caravanhäusern, die so groß waren, dass sie nur noch unter erheblichen Aufwand bewegt werden konnten, gingen wir lieber unten, also hinter der Promenade entlang. Es standen nur vereinzelte Wohnwagen herum, aber darin schienen Leute zu überwintern.

      Am Ende der Promenade öffnete sich die Landschaft etwas. Wir liefen auf Trampelpfaden durch braune Dünen und Massen an Ginster-Gestrüpp. Die Gegend diente in erster Linie als Müllabladeplatz und Hundetoilette. Ein Bunker aus dem zweiten Weltkrieg mit zwei Schießscharten wie Augen schaute grimmig auf die See. Die Klippe wurde immer steiler und der Abstand zum tobenden Meer immer schmaler. Schnell war es nicht mehr sicher unten entlangzugehen. Zurückgehen mochten wir aber nicht und kletterten deshalb durch die Büsche den steilen Hang hinauf. Dort war eine Baustelle und ein Verbotsschild. Unbeirrt bahnten wir uns einen Weg durch ein hohes Dickicht bis auf das Baustellengelände, auf dem ein neuer Caravanpark errichtet wurde. Das ganze Gelände war umzäunt. So blieb uns nichts anderes übrig, als den Hauptweg zum Ausgang zu nehmen. Einige Bauarbeiter beäugten uns, eine Familie, die vor einem Caravanhaus saß, erstarrte regelrecht in ihren Tätigkeiten und bestaunte uns. Unbeirrt hielten wir auf den Ausgang zu, gingen am Absperrbalken vorbei und auf die öffentliche Straße. Erleichtert darüber, dass wir niemand gegenüber hatten Rechenschaft ablegen müssen, atmeten wir erst einmal durch. Schnell waren wir im nächsten Ort mit dem Namen Cortes.

      Müde, durchgefroren und hungrig nahmen wir von dort einen kleinen Bus, der zufällig gerade ankam, zurück nach Lowestoft. Emil hatte blaue Lippen und weil ein heftiger Schneeregen eingesetzt hatte, wischte er die beschlagenen Scheiben. Auf einer Ein- und Ausfallstraße des Ortes warb ein gigantischer Supermarkt damit, 24 Stunden geöffnet zu haben. Während dieser Fahrt von Kreisel zu Kreisel, verwarf ich mein eigentliches Reisevorhaben, nämlich einige Tage auf den Spuren des Schriftstellers Sebald, die Küste hinunter zu wandern, wie Sebald es in den ‚Ringen des Saturn‘ beschrieben hatte. Das Wetter war einfach nicht entsprechend. Stattdessen plante ich nun, unsere Reise zu verkürzen und von Lowestoft aus, Ausflüge mit dem Bus zu unternehmen. Emil war damit sofort einverstanden und kaum an Lowestofts Busbahnhof angekommen, studierte ich die Fahrpläne, um am nächsten Tag Southwold zu besuchen, dem wahrscheinlich attraktivsten Ort in dieser Gegend.

      Weil wir so durchgefroren waren, schwenkten wir in eine ‚Shopping Mall‘. Boutiquen verkauften Krimskrams, einige ältere Frauen boten auf provisorischen Tischen alte Taschenbücher (Thriller) und gestrickte oder gehäkelte Sachen (Klopapier-Hüte) an. Die meisten Geschäfte waren geschlossen.

      Die Fußgängerzone kam uns in seiner unschlagbaren Tristheit schon sehr vertraut vor. Am späten Nachmittag war sie voller Menschen, die hier ihren Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, tagaus und tagein versuchten, etwas Brauchbares aufzutreiben, bis sie bei McDonald‘s oder in einem Arbeitercafé bei Pommes Frites endeten.

      In einem der zahlreichen Onepound- oder genauer Ninetyninepenceshops gleich am Bahnhof legten wir einen, wie ich hoffte, kurzen Zwischenstopp ein, weil Emil mich wieder daran erinnert hatte, dass wir seine Haarbürste vergessen hatten. Der Laden entpuppte sich als sehr groß, so groß, dass er sich durchaus mit der Größe eines deutschen Baumarkts vergleichen ließ. Ewig suchten wir die Gänge ab und betrachteten geschockt die schier endlose Palette an Schrottartikeln, fast alles aus China und aus Plastik. Am Ende hatten wir keine andere Wahl, als eine mit einem uringelben Kittel uniformierte Bedienung zu fragen, wo wir Haarbürsten finden könnten. Die überlegte lange, wies dann auf eine Reihe und beschrieb einen Platz in der Mitte. Da wir die einzigen Kunden waren, hätte sie uns ja mal ihr Sortiment zeigen können, aber wir fanden bald auch so eine Auswahl von ungefähr zehn verschiedenen Bürsten alle aus silberfarbenem Kunststoff, aber in den unterschiedlichsten Formen.

      Als wir endlich wieder draußen waren, hetzte ich Emil genervt über eine mit einem Verkehrsstau verstopfte Brücke, über einen Teil des Hafens hinweg, bis zu unserer 'Beach House' Pension.

      Der Besitzer lackierte eine Wand im Badezimmer über. Er gluckste euphorisch, als ich ihm mitteilte, dass wir noch eine weitere Nacht zu bleiben gedächten. Die Heizung im Zimmer funktionierte nun tatsächlich auch. Wir legten uns mit Sachen ins Bett und ich sackte kurz weg, bis Emil mich boxte und sagte: „Hey, nicht schlafen!“

      Also zogen wir uns

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