Скачать книгу

denn?“ Paul zeigte auf eine winzige Tür an der gegenüberliegenden Wand, direkt oberhalb der Fußleiste. Auf dem Fußboden standen ein Mini-Tannenbaum und eine dazu passende Bank. Eine kleine Leiter führte zu der Tür, an der ein geflochtener Kranz befestigt war. Neben der Treppe lag ein Köfferchen, und darauf befand sich ein gefalteter Zettel. „Paul“ stand in Großbuchstaben darauf. Das konnte er schon lesen.

      „Ein Brief für mich?“

      Sein Vater nickte. „Ja, das sieht so aus.“

      Paul nahm die Nachricht und gab sie seinem Vater. „Liest du es mir vor?“

      Sie setzten sich gemeinsam auf die große Truhe im Flur, beide noch in voller Wintermontur. Dann faltete Pauls Vater den Zettel auseinander und begann zu lesen.

      Lieber Paul!

      Ich freue mich, dass ich in dieser Adventszeit bei Euch wohnen darf. Auf den ersten Blick sieht Euer Zuhause sehr gemütlich aus, mit vielen bunten Sternen an den Fenstern. Hast Du sie selber gebastelt? Alle sehen anders aus, und das gefällt mir.

      Du fragst Dich wahrscheinlich, wer ich bin. Ich bin ein Weihnachtswichtel. Nachts, wenn Du schläfst und von Deinen Weihnachtswünschen träumst, bin ich unterwegs und helfe dem Weihnachtsmann. Auch Euer Haus bereite ich auf die großen Festtage vor. Doch Du wirst mich dabei nicht entdecken, nur vielleicht hinterher das eine oder andere, das ich gemacht habe. Aber das gehört zu Weihnachten ja mit dazu. Was wäre die Adventszeit ohne ein paar Weihnachtsheimlichkeiten?

      Ich wünsche Dir eine wunderschöne Adventszeit mit vielen kleinen Überraschungen!

      Dein Weihnachtswichtel

      Paul sprang auf und klatschte in die Hände. „Oh, das ist toll! Wir haben einen Weihnachtswichtel im Haus!“ Dann überlegte er und schaute sich das Köfferchen noch einmal an, auf dem ein Postsymbol aufgemalt war.

      „Papa, weißt du was? Ich male dem Weihnachtswichtel ein Willkommensbild. Damit er sich auch wohlfühlt bei uns. Ich fange gleich an.“

      „Das ist eine gute Idee“, bestätigte sein Vater. Dann hielt er seinen Sohn doch noch einmal zurück, der schon auf dem Weg in sein Zimmer war. „Zieh aber vorher noch deinen Schneeanzug aus. Sonst schmilzt du ja wie ein Schneemann in der Badewanne!“

Image

      So sah es hier jetzt also aus …

      Dominik bog in die Fußgängerzone ein und blieb erstaunt stehen. Eigentlich war es nur eine einzige lange Straße, die den Kern seines kleinen Ortes bildete. Hier fand man alles, was man zum Leben brauchte. Mehrere Bäcker, eine Drogerie, einen Buchladen, einen Zeitungskiosk, einen Getränkemarkt, Schuh- und Bekleidungsläden, Friseure, Cafés, Restaurants, Schnellimbisse, Sparkasse und Post. Selbst ein Eiscafé war vor ein paar Jahren dazugekommen, das allerdings jetzt im Winter geschlossen war. Nur die Lebensmittelläden hatten sich inzwischen am viel befahrenen Ring angesiedelt, der wie eine neuzeitliche Stadtmauer den Ortskern begrenzte.

      Von einer Seite der Fußgängerzone zur anderen waren Lichterketten gespannt, mal mit Rentieren und Sternen, mal in der Form von Weihnachtskränzen, und leuchteten in der beginnenden Dämmerung. Natürlich, die Adventszeit hatte inzwischen schon angefangen. Er war lange nicht mehr draußen gewesen. Ihm wurde jetzt erst bewusst, wie viel Zeit vergangen war, wie sehr sich alles verändert hatte. Auch die paar Holzbuden mit Glühwein, gebrannten Mandeln, Crêpes und Bratwürsten standen schon auf dem Platz vor der Kirche, deren Turmspitze an der nächsten Querstraße die Häuser überragte. Zu einem richtigen Weihnachtsmarkt hatte es bei ihnen im Ort nie gereicht. Aber ein bisschen Adventsstimmung konnte so auch aufkommen.

      Wobei, wohl nicht bei allen. Ein Mann mit Aktenkoffer hetzte an ihm vorbei. Ein anderer trat dort vorne aus einer Haustür und balancierte drei Pakete auf dem Arm, während er versuchte, mit der anderen Hand den Schlüssel in das Schloss zu stecken, um die Tür von außen abzuschließen. Aus der Ferne war ein Presslufthammer zu hören, dazu das Quietschen eines einfahrenden Zuges.

      Geräusche, so viele, so laut. Dominik schüttelte den Kopf. Er war wohl doch noch nicht ganz über den Berg. Drei Wochen lang hatte er die Wohnung nicht verlassen. Er war allein gewesen, die ganze Zeit. Niemand hatte ihn besuchen können. Die Ansteckungsgefahr wäre zu groß gewesen. Er hatte sich wohl an die Ruhe gewöhnt.

      Alles wirkte so schnell, so laut, wie im Zeitraffer mit Klangverstärkung. Das Klacken der Schuhe auf dem Pflaster, ein Stein, der, von einer Fußspitze getroffen, wegsprang, ein bellender Hund, dazu Musik aus einem Wohnhaus. War er der einzige, dem das auffiel? Wobei, früher hatte er es ja auch nicht bemerkt, hatte kaum darauf geachtet, was um ihn herum geschah. Meist war er in Gedanken bei der Arbeit oder im Gespräch mit Freunden vertieft. Oder er hatte Musik gehört. Stimmt. Wo waren eigentlich seine Kopfhörer?

      Wie oft war er wie der Mann mit Aktenkoffer hier durch die Straße gehetzt, weil er wieder mal in letzter Minute das Haus verlassen hatte? Wie oft war er noch seine Notizen im Kopf durchgegangen? Ohne einen Blick für seine Umgebung? Und wie lange hatte er sich nichts dabei gedacht?

      Er sah zur Seite. Dort stand ein Baum. Was war es? Eine Eiche? Eine Kastanie? Eine Buche? Jetzt, ohne Blätter, hatte er keine Chance, es zu erkennen. Schon im Sommer tat er sich schwer damit, Bäume richtig zu benennen. Im Winter waren es für ihn nur halbtote Gerippe, die ihre Arme anklagend in die Luft streckten.

      Da hing doch etwas am Baum! Kein Blatt, aber es schwankte trotzdem leicht im Wind. Neugierig ging er näher. Warum hing denn eine leere Tüte am Baum? Super soft, dreilagig, las er. Den oberen Teil konnte er nicht erkennen, da dieser mit einer Schnur zusammengebunden war, mit der die Folie an einem Zweig hing.

      Er nahm das merkwürdige Objekt in die Hand und schaute es sich genauer an. Ganz leer war es doch nicht. In der Toilettenpapierverpackung war ein Zettel, oder eher eine Karte. Sie war beschriftet, handschriftlich, so sauber und ordentlich, wie er es nie schaffen würde, selbst wenn er sich ganz viel Zeit dafür nehmen würde. Er zog die Folie glatt, um die Nachricht lesen zu können.

      Mach weiter!

      Alles normal!

      WAS IST NORMAL???

      Die Karte hatte ein Loch oben links in der Ecke. Wofür war das gedacht? Und wer hatte die Karte in die Tüte gepackt und an den Baum gehängt?

      Vorsichtig löste Dominik den Knoten, mit dem die Verpackung an einem Ast befestigt worden war, nahm die Folie mit der innen liegenden Karte in die Hand und ging weiter. Es war eigentlich nichts Besonderes, und doch hatte es seine Aufmerksamkeit geweckt.

      Zu Hause legte Dominik sein Mitbringsel auf den Tisch, holte die Karte aus der Folie und wusch sich danach erst einmal gründlich die Hände. Die Karte war aus fester Pappe, weiß, ohne einen Aufdruck. Er drehte sie um. Die Rückseite war leer. Nur ein Teil eines Schuhabdrucks war darauf zu sehen. Und auf der Vorderseite gab es die drei handschriftlichen Sätze, die er vorher schon durch die Folie hatte entziffern können.

      Was hatte er da gefunden? Hatte die Nachricht an einer Schnur gehangen? Vielleicht befestigt an einem Luftballon? Aber für wen war sie gedacht? Und warum erwartete der Absender keine Antwort?

      Was faszinierte ihn so daran? Dominik konnte es nicht sagen. Er ging zum Sofa, nahm sein Handy aus der Tasche, machte ein Foto von der Karte und postete es. #NachrichtamBaum

      ---

      Dominik blinzelte. Er musste wohl eingeschlafen sein. Draußen war es bereits dunkel. Dass ihn ein kleiner Spaziergang immer noch so anstrengte … Früher war er sportlich gewesen, war gern und regelmäßig gejoggt. Wann würde er dafür wieder die Kraft finden?

      Er griff nach seinem Handy, um nach der Uhrzeit zu schauen. Sein Sperrbildschirm war gefüllt von Nachrichten:

      Du wurdest in einer Nachricht markiert.

      Dein Beitrag wurde geteilt.

      Du wurdest in einem Beitrag erwähnt.

      Du

Скачать книгу