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vielleicht Schwarzweiß-Gebäck und danach Schoko-Nuss-Makronen. Nein, immer dasselbe Rezept. Das Rezept, das du seit deinem 11. Geburtstag in jedem Jahr gebacken hast.“

      „Ja, und immer haben die Kekse geschmeckt. Nur jetzt, ausgerechnet jetzt wollen sie nichts werden“, jammerte Sarah. „Dabei habe ich alles probiert: Ich habe mal ein bisschen mehr Zimt genommen, mal ein bisschen weniger, mal mehr Kakao, mal weniger Kakao, dafür aber mehr Zimt und Honig, mal waren sie bei niedrigerer Temperatur länger im Backofen, mal hatte ich ihn etwas heißer eingestellt. Was ich auch versucht habe, nichts hat geholfen! Und jetzt erzählst du mir, ich sei nicht ganz bei mir. Ist das etwa ein Wunder?“ Sarah ließ sich auf den Fußboden sinken und lehnte sich gegen den Küchenschrank.

      „Hast du den Keksen denn jemals eine echte Chance gegeben?“, fragte die Stimme freundlich.

      „Wie meinst du das? Natürlich habe ich sie probiert!“

      „Ja, das weiß ich. Aber was hast du dabei gedacht, als du sie probiert hast? Vor zwölf Tagen oder letzte Woche oder gestern?“

      „Das musst du doch wissen! Ich dachte, wir machen alles zusammen.“

      „Natürlich weiß ich es. Ich möchte es aber von dir hören!“

      Sarah schüttelte den Kopf. Sie hatte fast den Eindruck, ihre Stimme würde sich zurücklehnen und sie abwartend ansehen. Vielleicht wippte sie auch noch mit dem Fuß. Hatte sie etwa Sandalen an? Flip-Flops? Im Winter? Was denke ich da nur? Eine Stimme trägt Flip-Flops?

      „Du lenkst ab!“, ermahnte sie die Stimme. „Natürlich trage ich gern Flip-Flops. Ich bin du, schon vergessen?“

      Sarah sah auf ihre Füße. Ja, auch sie lief gern barfuß oder mit Flip-Flops herum. Im Winter allerdings nur in der Wohnung. Dafür zog sie sich allerdings auch als erste einen Pullover über, wenn alle anderen noch kurzärmelig herumliefen und die letzten Sonnenstrahlen genossen. Eigentlich war sie eben doch ein Friasling, wie ihr Vater sie früher immer genannt hatte, da sie so schnell fror.

      „Ein Friasling mit Flip-Flops“, lachte die Stimme. „Aber zurück zum Thema!“

      „Was war das noch mal?“

      „Die Kekse. Hast du ihnen jemals eine echte Chance gegeben? Was hast du gedacht, als du sie probiert hast? Oder besser: Woran hast du dabei gedacht?“

      Sarah atmete tief ein und aus und schloss die Augen. Sofort fühlte sie sich zurückversetzt an den einen entscheidenden Abend im letzten Jahr. Auch damals waren sie zusammen auf der Hütte gewesen, Sarah, Alex, Jenny, Niklas und Tobi, ihre ganze Clique aus der Schulzeit. Sie waren zusammen Ski gefahren, hatten Schneewanderungen unternommen, waren im Schwimmbad und hatten sich eine Schneeballschlacht geliefert, die sich gewaschen hatte, bis sie dann lachend im Schnee gelandet waren. Abends hatten sie bei Käse und Wein zusammengesessen und sich die alten Geschichten erzählt. Von Herrn Schleich, der ohne seine Chemie-Notizen aufgeschmissen war, und der alten Knobloch, die immer heimlich ihre Illustrierten während der Aufsicht las. Und irgendwann waren nur noch Alex und sie übrig geblieben. Das Feuer knisterte, sie lachten, der Wein zeigte seine Wirkung, und nach und nach war der Abstand zwischen ihnen immer geringer geworden. Es fühlte sich einfach nur natürlich an, sich an ihn zu lehnen, ihre Hand in seiner zu spüren, seinen Daumen auf ihrem Handrücken, ihrer beider Finger, die sich ineinander verschränkten. Ihr ganzer Körper hatte gekribbelt, nicht nur die Stellen, die er berührt hatte. Und dann hatten sie sich mit Plätzchen gefüttert, den Plätzchen, die sie mitgebracht hatte. Irgendwann wischte er ihr einen Krümel aus dem Mundwinkel und küsste sie vorsichtig. Sie fühlte Wärme, Kribbeln, das Kratzen seines Bartansatzes, schmeckte Wein, Käse und eben ihre Plätzchen. Sie fühlte sich zu Hause, angekommen, eine vertraute Situation und trotzdem aufregend neu.

      Am nächsten Morgen hatten die anderen wissende Blicke geteilt. Niklas konnte sich natürlich einen Kommentar nicht verkneifen und wurde dafür von Jenny strafend in die Seite gestoßen. Dabei war gar nichts passiert. Wie auch? Es gab ja nur zwei Schlafzimmer und ihres teilte sie sich mit Jenny. Diese hatte natürlich schon längst geschlafen, schließlich waren die Sterne am Himmel schon blasser geworden. Oder der Himmel heller, wie man es sehen wollte.

      Diese Nacht hatte sie trotzdem nicht vergessen. Und mittendrin ihre Plätzchen.

      Alex war kurz nach Silvester wieder zum Studium nach Barcelona zurückgekehrt, und sie hatte ihre Tage im Zwiespalt zwischen der Uni und dem Job im Copyshop verbracht. Natürlich hatte sie Alex nicht das ganze Jahr hinterher getrauert. Trotzdem hatte sie immer mal wieder an ihre gemeinsame Nacht gedacht. Und er hatte es offensichtlich auch nicht vergessen. Und die Rolle, die ihre Plätzchen dabei gespielt hatten, auch nicht.

      „Und deshalb ist es auch so wichtig, dass sie genauso gut werden wie letztes Jahr“, ergänzte Sarah ihre Gedanken.

      „Und da haben wir das Problem.“

      „Genau. Sie waren super. Und jetzt schmecken sie, tja, halt nach Margarine, Mehl, Zucker und Eiern.“

      „Nicht zu vergessen, nach Zimt und Kakao“, neckte sie die Stimme.

      „Hey, das ist ein ernstes Problem!“, beschwerte sich Sarah. „Sie waren magisch, und jetzt sind es einfach Plätzchen.“

      „Das ist das, was du in ihnen siehst. Und das meinte ich, als ich mich bei dir eingeschaltet habe. Deine Erinnerungen spielen dir einen Streich.“

      „Was meinst du damit?“

      „Erinnerungen sind nie objektiv. Sie sind nicht messbar. Frage drei Personen, die gemeinsam einen Abend erleben. Jeder wird dir die Situation anders schildern. Es spielt so viel zusammen. Deine Gefühle, deine Stimmung, deine gemachten Erfahrungen, deine Gedanken: All das beeinflusst deine Erinnerung.“

      „Du meinst, es ist gar nicht so passiert, wie ich es in Erinnerung habe?“

      „Doch, für dich in diesem Fall schon. Aber es wäre sogar möglich, dir eine Erinnerung an eine Begebenheit zu schaffen, die du gar nicht selber erlebt hast. Und trotzdem könntest du irgendwann das Erlebte in der Erinnerung spüren.“

      „Das klingt verrückt.“ Sarah umfasste ihre Knie.

      „Es ist auch verrückt. Aber trotzdem möglich. Und auch dir ist es schon passiert!“

      „Mir? Was weißt du? Willst du damit sagen, mein Leben ist eigentlich ganz anders verlaufen?“

      Die Stimme lachte beschwichtigend. „Keine Sorge! Den Großteil deines Lebens hast du schon wirklich erlebt und hast dir deine eigenen Erinnerungen erschaffen. Aber erinnerst du dich an den 85. Geburtstag deiner Tante Tilly? Damals, als du vier Jahre alt warst?“

      Sarah überlegte. „Da waren wir doch gar nicht. Weil ich die Treppe runtergefallen bin und ins Krankenhaus musste.“

      „Stimmt, ihr, also wir waren nicht da. Aber im Krankenhaus warst du auch nicht.“

      „Nicht? Aber ich kann mich doch an die Schmerzen erinnern. Mein Knie tat wochenlang weh!“

      „Ja, du bist auch gefallen. Allerdings nicht die Treppe hinunter, sondern beim Hochlaufen. Du bist ausgerutscht und hingefallen. Dein Knie war aufgeschlagen. Das hat gebrannt, vor allem beim Baden. Aber im Krankenhaus waren wir nicht.“

      „Aber ich kann mich doch daran erinnern. An die Aufnahmeschwester, die ständig eine Möhre im Mund hatte und nur gemeckert hat. An den Flur mit dem quietschenden Boden. Und an den Geruch.“

      „Das ist alles nicht passiert. Das haben dir deine Eltern erzählt. Die Krankenschwester gab es auch, aber nicht da. Sie war an der Anmeldung, als deine Eltern mit dir zur Entbindung gekommen sind.“

      „Warum sollten sie mir so eine Geschichte erzählen? Warum sollten sie so etwas tun?“

      „Sie hatten sich gestritten. Dein Vater wollte nicht mehr mitkommen und deine Mutter hatte überhaupt keine Lust, allein zu fahren und allen zu erklären, wo denn ihr Mann sei und warum er nicht mitgekommen war. Und dann bist du hingefallen. Das war wie ein Zeichen für sie, die bequemste Lösung, aus der Situation zu kommen: Die Geschichte,

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