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legte den Immobilienkatalog daneben und freute sich bereits darauf, hier zu arbeiten und zwischendurch aufs Meer hinauszuschauen.

      Nach dem Duschen zog sie ein Kurzarmshirt und eine dünne Jeans an, dann nahm sie ihre Sommerjacke und den Lederrucksack, den sie anstatt einer Handtasche mitgenommen hatte, steckte den Hausschlüssel ein und ging durch den Garten aus dem Haus. Es war erst zwanzig nach fünf und irgendwie reizte sie der Weg durch die Hügel, obwohl Erin sie gewarnt hatte, dass sie dort nicht allein herumlaufen sollte.

      Sie ging den schmalen Pfad entlang, öffnete die Gartentür und stand auf einem Feldweg, der offensichtlich am Ort entlang führte. Sie überquerte ihn und stieg den grasbewachsenen Hügel hinauf. Es gab keinen Weg, sie ging einfach querfeldein. Zwischen ruppigem Gras wuchsen lilablaue Disteln und kleine Erikastauden.

      Nach einigen Minuten hatte sie den ersten Hügel erklommen. Vor ihr lagen wellenförmig noch weitere Hügel. Auch hier war kein Weg auszumachen. Als sie sich umdrehte, sah sie die Häuser des Ortes vor sich liegen. Mitten aus dem Häusermeer ragte ein Kirchturm. Er gehörte wohl zu der sogenannten Free Church, von der sie gelesen hatte.

      Sie überlegte, ob sie auch den nächsten Hügel hinaufgehen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Erin hatte bestimmt ihre Gründe, wenn sie sie warnte. Und sie konnte sich gut vorstellen, dass sie weiter oben keine Häuser mehr sehen würde. Da es keinen erkennbaren Weg gab, konnte man sich wirklich verirren.

      Also ging sie wieder nach unten und von ihrem Cottage aus die Straße zurück, die sie mit Erin zusammen hergekommen war. Dann bog sie an der Kreuzung nach links und sah schon weiter vorne das bunte Schild, auf dem Rosslair stand.

      Vor einem gelben Hintergrund zeigte es ein typisches Pintglas mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit. Sarah tippte darauf, dass es Guinness, das bekannte irische Bier, darstellen sollte. Auf ihr erstes Pint freute sie sich. Sie war zuletzt zwei Jahre zuvor in Großbritannien gewesen und hatte Appetit auf den würzig, leicht süßlich-herben Geschmack des dunklen Gebräus.

      Kapitel 4

      Ella hatte endlich die Kurve gekriegt und sich ihrer Bügelwäsche angenommen. Verbissen schob sie das Eisen über das schwarze Herrenhemd, das Klaus am nächsten Abend anziehen wollte.

      Er arbeitete als Filialleiter eines großen Drogeriemarktes und am nächsten Abend würde ein neuer Markt in Seckenheim eröffnet werden. Man erwartete von ihm, dass er dort erschien.

      Ella fragte sich, ob ihm sein dunkelgrauer Anzug nicht zu eng war. Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr getragen und sie war sich ziemlich sicher, dass er den Blazer nicht würde schließen können, die Hose erst recht nicht. Als sie ihm zwei Wochen zuvor vorgeschlagen hatte, beides vorsichtshalber anzuprobieren, hatte er abgewunken. „Das passt schon.“

      „Wenn nicht, hast du ein Problem. Jetzt hättest du noch Zeit, dir einen neuen Anzug zu kaufen und vor allem die Hosenbeine kürzen zu lassen.“

      „Du immer mit deiner Besserwisserei!“

      Ella hatte zunächst vernünftig mit ihm reden wollen, aber dann sagte sie sich: Bin ich seine Mutter? Nö. Alt genug ist er auch, soll er sehen, wie er mit der Situation zurechtkommt.

      Sie bügelte vorsichtig den Kragen und überlegte sich, wie es nach der Szene im Pub weitergehen würde mit Sarah. Sie könnte sich zusammen mit Erin einige Sehenswürdigkeiten in Dingwall ansehen. Dazu muss ich einiges recherchieren, dachte sie. Aber zum Glück konnte man heutzutage relativ schnell und unproblematisch im Internet fast alles nachlesen. Wikipedia war immer eine gute Möglichkeit, sich zu informieren. Und bei Google Earth konnte sie sich alles genau ansehen.

      Sobald sie das Nötigste gebügelt hatte, kochte sie sich einen Kaffee, nahm ihn mit in ihr Arbeitszimmer und informierte sich über den alten Ort im Norden Schottlands. In der folgenden Stunde scrollte sie durch die diversen Informationen, schrieb sich einiges heraus und wollte gerade an ihrem Roman, den sie Schottische Romanze genannt hatte, weiterschreiben, als das Telefon klingelte.

      „Mist, verfluchter!“ Wer riss sie denn jetzt aus ihrer Konzentration?

      Ihre Mutter. „Hallo, ich wollte nur mal fragen, wie’s dir geht.“

      „Mir geht’s gut, Mama. Und dir?“

      „Naja …“ Stille am anderen Ende. Und Ella wusste, was als nächstes käme. „Ich bin halt so allein. Immer sitze ich den ganzen Tag nur herum. Und mir ist langweilig.“

      „Mama, ich kann heute nicht schon wieder kommen.“

      „Du warst ja schon eeewig nicht mehr bei mir!“

      Ella sah auf die Uhr. „Es ist etwas mehr als zwanzig Stunden her, seit ich bei dir war. Erinnerst du dich – gestern war ich für dich einkaufen, habe deinen Müll rausgebracht, dir die Tabletten für die kommende Woche gerichtet und die gewaschene Wäsche mitgebracht.“

      „Ach so, ja, hab ich vergessen. Wann kommst du?“

      „Mama, heute nicht, ich muss auch mal meine Arbeit erledigen.“

      Ella brauchte nur zehn Minuten mit dem Auto bis zur Wohnung ihrer Mutter. Sie war 84 und baute in letzter Zeit geistig ab. Sie vergaß vieles, konnte nicht mehr so gut sehen wie früher, und wenn sie las, musste sie nach knapp einer Stunde aufhören, weil ihre Augen tränten oder juckten. Dann saß sie in ihrem Sessel und langweilte sich. Nachmittags schaute sie zwei Soaps nacheinander, dann löste sie Rätsel. Aber nach fünf Uhr kam noch nichts im Fernsehen, was sie interessierte, also rief sie dann meist bei Ella an, wenn die nicht gerade bei ihr war, was jeden zweiten Tag der Fall war.

      Für die alte Frau waren die Besuche ihrer Tochter nicht lang und nicht häufig genug. Für Ella waren sie Stress pur. Ihre Mutter hatte zwar eine Putzfrau, die alle zwei Wochen saubermachte und jedes zweite Mal ihr Bett frisch bezog, aber den ganzen Rest, einschließlich Arzttermine und den gesamten anfallenden Schriftverkehr, erledigte Ella. Sie tat es vom Prinzip her gern, aber in letzter Zeit wurde ihr dieses ständige Zur-Verfügung-Stehen und Präsent-sein-müssen manchmal zu viel.

      Außerdem fand sie es nicht in Ordnung, dass ihr Bruder sich aus der Betreuung ihrer Mutter komplett heraushielt. Er ging zwar arbeiten, und Ella hatte vollstes Verständnis dafür, dass er unter der Woche keine Zeit hatte. Aber am Wochenende hätte er durchaus an einem Tag seine Mutter besuchen können, und Ella hätte somit nicht die ganze Verantwortung für ihr Wohlergehen allein tragen müssen.

      Hans besuchte seine Mutter, wenn überhaupt, höchstens einmal im Monat. Dann kam er sonntags am Nachmittag für eine knappe Stunde vorbei, aß den Kuchen, den Ella gebacken oder gekauft, und trank den Kaffee, den seine Mutter gekocht hatte. Er erzählte von seinem Alltag, dann sah er gehetzt auf die Uhr, sagte, er müsse dringend noch einiges erledigen, und weg war er. Dennoch ließ die alte Dame nichts auf ihren Sohn kommen.

      Es hätte vom Prinzip her eine Lösung für das Problem der Langeweile gegeben, aber ihre Mutter wollte davon nichts wissen. Ella beschloss spontan, sie zu überrumpeln.

      „Weißt du was, Mama, morgen komme ich schon um neun zu dir und dann machen wir einen kleinen Ausflug.“

      Ihre Mutter konnte zwar kaum noch gehen, und das auch nur langsam und mithilfe ihres Rollators, weil sie seit Jahren von schwerer Arthritis geplagt wurde, aber etwas unternehmen wollte sie dennoch immer. Da war der Kopf mobiler als der Körper.

      „Oh schön. Und wohin?“

      „Das ist eine Überraschung. Wie gesagt, morgen früh um neun bin ich bei dir.“

      Ella hatte vier Wochen zuvor den Prospekt einer Seniorentagesstätte im Briefkasten vorgefunden. Sie war im Januar eröffnet worden und was in dem Prospekt von Haus Sonnenschein stand, klang gut. Es handelte sich um eine Tagesbetreuung für ältere Menschen.

      Sie bekamen Frühstück, Mittagessen und Nachmittagstee mit Kuchen. Für ihre Siesta waren sogar Liegen mit Decken vorhanden. Aber was das Wichtigste wäre: Ihre Mutter wäre endlich nicht mehr allein. Sie hätte Ansprache, würde beschäftigt werden. Von Zeitung vorlesen, Rätsel lösen und einfache Spiele machen bis zu gelegentlich basteln war die Rede.

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