Скачать книгу

ihre Gedanken schweiften ständig ab.

      Ihre Eltern hatten Jahre zuvor schon eine Lebensversicherung abgeschlossen. Zum Glück für Sarah konnten Totenscheine ausgestellt werden, da die Leichen aufgetaucht waren. Und so zahlte die Versicherung, so dass Sarah überhaupt Geld zum Leben hatte.

      Kurz vor Weihnachten erzählte ihr eine Mitschülerin, dass eine Studenten-WG ein freies Zimmer hatte. Die ältere Schwester ihrer Freundin wohnte auch dort. Da kam sie unter. Das Haus ihrer Eltern bot sie zum Verkauf an. Der Vater ihrer Freundin Tanja wollte sich darum kümmern. Er arbeitete in der Immobilienabteilung einer Bank und nahm sich dieser Sache an. Sarah war dankbar darum.

      Das erste Weihnachtsfest ohne ihre Eltern verbrachte sie bei Tanja und deren Familie. Sie überstand diese Tage irgendwie, wenigstens war sie nicht allein.

      Aber sobald im Februar die Vorbereitung für das schriftliche Abitur anstand, bekam Sarah Angstzustände und konnte nicht mehr aus dem Haus gehen. Ihr Arzt wies sie in die geschlossene Psychiatrie ein, wo sie einige Monate bleiben musste.

      Allerdings hatte sie Glück; sie hatte einen guten Mediziner erwischt, der sie nicht vollpumpte mit Psychopharmaka, sondern mittels Gesprächen, Workshops und täglichen Sportübungen ermöglichte, dass Sarah nach und nach endlich ihre Trauer verarbeiten konnte. Als sie entlassen wurde, war es Ende Mai und das Abitur ihres Jahrgangs fast vorbei. Sie würde die Dreizehnte wiederholen müssen.

      In diesem Sommer machte sie ihre Ausbildung zur Stadtführerin und im Herbst, als die Schule wieder anfing, begleitete sie am Wochenende Touristen auf ihren Gängen durch Heidelberg. Im Oktober hatte der Vater von Tanja endlich Käufer für das Haus gefunden.

      Zu dieser Zeit herrschte ein sogenannter Käufermarkt. Die Menschen wollten ein Eigenheim besitzen, doch sie wollten möglichst wenig dafür bezahlen. Bis die Schulden beglichen waren, blieb Sarah nicht allzu viel übrig. Aber zusammen mit der Lebensversicherung konnte sie etwas mehr als einhundertfünfzigtausend Euro ihr Eigen nennen – eine solide Basis für ihr Studium und die ersten Berufsjahre.

      Bevor die neuen Besitzer ihr Haus entgegenahmen, musste Sarah es räumen. Sie hatte die Möbel aus ihrem Zimmer ein knappes Jahr zuvor, als sie in die WG gezogen war, mitgenommen. Auch den Fernsehapparat und einige Gebrauchsgegenstände aus der Küche, Handtücher und Bettwäsche hatte sie gut gebrauchen können. Den Keller hatte sie, zusammen mit einigen Mitschülern, in den Sommerferien ausgeräumt, die Wohnzimmermöbel von einem Sozialkaufhaus abholen lassen.

      Aber im Schlafzimmer ihrer Eltern sah es noch genauso aus wie ein Jahr zuvor, als sie in den Urlaub aufgebrochen waren, aus dem sie nie wieder zurückkehren sollten. Sarah hatte das Gefühl, wenn sie ihre Kleidung aussortierte und weggab, waren ihre Eltern endgültig tot.

      Aber es half nichts, jetzt musste es sein. Sie hatte Hilfe von ihrer Freundin Tanja, die pragmatisch zuerst Unterwäsche und Schuhe in einem blauen Müllsack verschwinden ließ. Sarah machte sich an die Kleidung ihres Vaters. Seinen Lieblingspullover, dunkelbraun, mit Flusen vom häufigen Tragen, am Bund ausgeleiert, und die Hausschuhe von beiden packte sie in eine Einkaufstüte. Auch das blaue Seidenkleid ihrer Mutter legte sie dort hinein. In der WG stellte sie sie später in die Ecke neben ihrem Bett. Sie würde sie immer aufbewahren. Einen letzten Rest Lebendigsein ihrer Eltern musste sie haben.

      Als zwei große Mülltüten randvoll waren, fuhr Tanja damit zum Container drei Straßen weiter. Sarah wandte sich dem Teil des Schrankes zu, in dem die Kleidung ihrer Mutter hing. Als eine beige Seidenbluse vom Bügel rutschte, bückte Sarah sich und hob sie auf. Unter der Bluse lag etwas Hartes. Sie zog es hervor und hielt das dunkelrote Schmuckkästchen ihrer Tante in der Hand. Nach deren Tod hatte sie Sarahs Mutter ihren Schmuck und einiges an Bargeld vererbt, da sie selbst keine Kinder gehabt hatte.

      Sarah setzte sich aufs Bett und öffnete die rote Lederschatulle. Zuoberst war ein niedriges Fach, in dem eine Bernsteinkette lag. Daneben steckten zwei Ringe: einer mit einem Amethysten und ein Perlenring, beide in Gold gefasst. Darunter in den beiden Fächern lagen diverse Armreifen, Ohrringe und weitere Ketten.

      Es waren Schmuckstücke, die ihrer Tante wahrscheinlich wichtig gewesen waren. Aber ihre Mutter hatte keines davon getragen, sie hatte einen völlig anderen Geschmack gehabt. Sarah vermutete, dass sie die Schatulle bekommen und so, wie sie war, unten auf den Schrankboden gestellt hatte.

      Sie zog eine Korallenkette aus dem unteren Fach heraus, die sie ganz hübsch fand. Dabei verhakte sich eines der unebenen Glieder und die Kette blieb stecken. Sarah fasste sie vorsichtig, damit sie nicht kaputtging, mit beiden Händen und ließ dabei den Schmuckkasten los. Ehe sie reagieren konnte, rutschte er über ihre Knie und fiel zu Boden, natürlich mit der Oberseite zuunterst.

      Sarah bückte sich und hob sie auf. Dabei fielen die Fächer heraus, Ketten verhakten sich in Ohrringen, Ringe purzelten über das Parkett im Schlafzimmer und unter dem letzten Fach fielen Geldscheine heraus.

      Sarah starrte sie an, dann hob sie sie auf: Es waren zwanzig Scheine zu je hundert Pfund. Sie nahm sie und steckte sie spontan in die obere Schublade des Nachttisches, weil sie hörte, wie Tanja unten die Haustür aufschloss. Ohne weiter darüber nachzudenken, wollte sie nicht, dass ihre Freundin von dem Geld erfuhr.

      Sie bat Tanja, die Schuhe ihrer Mutter auch zu entsorgen, während sie die Kleidung aussortierte. Leider hatte sie Schuhgröße 39 gehabt und Kleidergröße 42. Sarah hatte eine Schuhgröße weniger und trug Größe 38. Dennoch schlüpfte sie in die hellbraune Jacke aus weichem Nappaleder hinein, die ihre Mutter vier Jahre zuvor auf einem Trödelmarkt in Lloret de Mar für wenig Geld erstanden hatte. Die Jacke war relativ eng geschnitten und ihre Mutter hatte sie nicht schließen können.

      Tanja zuckte die Schultern. „Wenn du eine Bluse und darüber noch einen warmen Pulli trägst, dann passt sie dir.“

      Sarah war erleichtert. Sie hob den Kragen an ihre Nase und schnüffelte. Das Parfüm ihrer Mutter war immer noch leicht auszumachen. Sie legte die Jacke zu den wenigen Dingen, die sie behalten wollte. Dann wandte sie sich wieder dem Kleiderschrank zu.

      Plötzlich stutzte sie. In der linken Ecke, hinter einem marineblauen Blazer versteckt, hing ein langes schwarzes Kleid. Sarah nahm es heraus und hörte hinter sich Tanjas „Woah!“

      Es war ein schlichtes Abendkleid, eng geschnitten, die Spaghettiträger waren Strass-Steine. Und es war definitiv nicht Größe 42. Darüber hing ein schwarzes kurzes Jäckchen, dessen einer Knopf oben auch aus kleinen Strass-Steinen bestand.

      „Das passt dir! Probier’s doch mal an.“ Tanja beäugte das Kleid neidisch. „Sowas Schönes hätte ich auch gerne mal. Und vor allem die Figur, es tragen zu können.“ Ihre Freundin war eher etwas füllig und kämpfte ständig mit irgendwelchen Diäten gegen ihr Übergewicht.

      Sarah zog Shirt und Jeans aus und den weichen Stoff über den Kopf – das Kleid passte wie angegossen. „Das muss Mama bei ihrem Abschlussball vom Tanzkurs getragen haben. Ich meine, ich hätte mal ein Foto davon gesehen.“ Sie betrachtete sich im Spiegel des Kleiderschrankes.

      „Toll siehst du aus!“ Tanja strahlte. „Und jetzt zieh noch das Bolero drüber.“ Sie reichte es Sarah. Auch das passte und der Strassknopf funkelte im Nachmittagslicht.

      „Das sieht wirklich schön aus, aber zu welcher Gelegenheit soll ich so etwas Feines denn tragen?“ Sarah drehte sich vor dem Spiegel hin und her.

      „Wart’s ab. Irgendwann wirst du vielleicht dankbar sein, dass du es hast.“

      Nach dem Hausverkauf konzentrierte sie sich auf ihr Abitur, büffelte und schloss ihre Schulausbildung mit 1,3 ab. Ihre Eltern wären stolz auf sie gewesen.

      Bei der offiziellen Abiturfeier kam dieser Augenblick, wo die Eltern der anderen Schüler stolz die Zeugnisse ihrer Sprösslinge begutachteten, während Sarah bei der Familie ihrer Freundin stand. Was hätte sie darum gegeben, das glückliche Strahlen ihrer Mutter und den Stolz im Gesicht ihres Vaters zu sehen! Sobald sie ihr Zeugnis entgegengenommen hatte, fuhr sie in die WG zurück, vergrub sich unter ihrer Bettdecke und gab sich einem ausgewachsenen Heulkrampf hin.

      Am nächsten Morgen beschloss

Скачать книгу