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Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
Читать онлайн.Название Traum oder wahres Leben
Год выпуска 0
isbn 9783738079319
Автор произведения Joachim R. Steudel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sarah atmete geräuschvoll ein und aus.
»Das macht mir Angst.«
»Was ich gut verstehe, aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun könnte. Doch vielleicht solltest du lernen, sie zu verstehen, und alles findet ein Ende. Vielleicht habe ich ja endlich genug gelernt.«
»Genug gelernt?«
»Ja, denn ums Lernen geht es anscheinend. Als ich Siswati fragte, warum ihr die Stimmen verboten hätten, mit mir darüber zu sprechen, sagte sie:
›Damit du lernst, lernst zu verstehen.‹
Doch ich verstand gar nichts. Ich dachte, der Krebs hätte auch ihren Verstand angegriffen und sie halluziniere vielleicht. Erst viel später begriff ich, dass dem nicht so war. Mit aller Kraft versuchte ich, ihr Leiden zu mindern. Am Anfang wollte sie sich dagegen sperren, doch dann gab sie lächelnd nach und sagte:
›Es wird dir nicht gelingen. Du kannst es nur hinauszögern, aber vielleicht ist das auch gut so, denn dabei kannst du vielleicht doch noch etwas lernen.‹
Diese Einstellung machte mich wütend, und im Geheimen verwünschte ich die Stimmen in ihr. Sie schien es zu wissen, lachte darüber und begann mir vieles zu erklären. In der Zeit, als ich sie vernachlässigt hatte, war es ihr gelungen, die Stimmen zu verstehen. Sie konnte Fragen stellen und erhielt fast immer eine Antwort. Auch über meine Vergangenheit unterrichteten sie die Stimmen. Vieles von Kazuko hatte ich vor ihr verheimlicht, doch sie erzählten es ihr. Sie wusste Dinge, die ich ihr niemals verraten hatte, und das verunsicherte mich zusehends. Sie lernte auch viel von ihnen: Verständnis, Hingabe und einiges mehr, was mir zu dieser Zeit in vielen Situationen fehlte. Als die Krankheit sich einstellte, halfen sie ihr, den Schmerz auszublenden und alles mit Geduld zu ertragen. Sie sagte mir, es wäre keine Last für sie gewesen. Im Gegenteil, sie war dankbar für die Jahre mit mir. In den wenigen verbleibenden Monaten erschien sie glücklicher denn je. Immer wieder erzählte sie mir, wie schön es für sie war, als ich mich besann und den Weg zurück zu ihr fand. Im Laufe dieser Gespräche begriff ich, dass es unsinnig ist, im Vergangenen verhaftet zu bleiben. Dass die Zeit, die man damit verbringt, verlorene Zeit ist, etwas, was man niemals wieder aufholen kann. Viele Jahre, die ich mit Siswati hätte glücklich sein können, habe ich so vergeudet. Und obwohl ich das begriffen hatte, habe ich später immer wieder ähnliche Fehler gemacht.«
Sarah blickte nachdenklich auf ihre Hände.
»Was haben ihr die Stimmen noch gesagt? Es waren doch verschiedene?«
Al-Kismetbahr nickte.
»Ja, es scheint eine ganze Gruppe gewesen zu sein, und sie haben über vieles mit ihr gesprochen, doch den Grund für ihr Vorhandensein habe ich nicht erkannt. Das war es doch, was du wissen wolltest, oder?«
»Hm«, stieß Sarah leise hervor. »Einerseits machen mir die Stimmen Angst. Andererseits sehne ich mich nach ihnen. Ich habe das Gefühl, sie gehören zu mir. Aber wenn ich höre, dass sie Siswati nicht geholfen haben und sie drängten, ihre Krankheit zu akzeptieren, ja sie sogar vor dir zu verheimlichen, dann möchte ich sie am liebsten wieder loswerden.«
»Ich gehe davon aus, dass dir das nicht gelingen wird. Viele, mit denen ich näher bekannt wurde, haben mir von den Stimmen erzählt, und ich scheine der Grund für ihr Auftreten zu sein. Es tut mir leid, dass du damit belastet wirst, andererseits hoffe ich, dadurch endlich den ewigen Kreislauf durchbrechen zu können. Han Liang Tian, der alte Abt von Shaolin, sprach als Erster von ihnen. Ihm hatten sie befohlen, mich auszubilden. Mir alles beizubringen, was er wusste. Der Schmied von Sendai erwähnte sie auch. Ihn hatten die Stimmen veranlasst, mich auf der Bandai-Mission zu begleiten. Damals habe ich nicht weiter darauf geachtet, denn gerade der Schmied wählte oft kauzige Erklärungen für sein Verhalten. Doch immer, wenn die Stimmen verstärkt auftraten, habe ich grundlegende Erkenntnisse gewonnen. Auch heute, bei der Grabungsstelle, ist mir durch die Gespräche, die ich in letzter Zeit mit dir geführt habe, etwas bewusst geworden. Ich muss einen der gravierendsten Fehler, den ich jemals begangen habe, korrigieren.«
»Was für einen Fehler?«, fragte Sarah und blickte gespannt in Karims Gesicht.
»Du wirst es erfahren, aber nicht jetzt! Ich muss heute unbedingt noch einiges in die Wege leiten, und dabei kannst du mich leider nicht begleiten. Die Männer, die ich aufsuchen muss, sind strenggläubige Muslime und in der Gegenwart einer Frau würden sie niemals mit mir über die Dinge verhandeln, die ich brauche.«
»Weil ich noch keine entsprechende Kleidung habe?«
»Nein, weil ihnen andere Wertvorstellungen eigen sind. Im Grunde wiederstrebt es mir sie einzubeziehen, doch die derzeitigen Umstände lassen mich keinen besseren Weg erkennen.«
Sarah zog die Brauen hoch und blickte Karim skeptisch an.
»Vielleicht ...«
»Nein Sarah! Ich werde nicht mit dir diskutieren und dir auch nichts weiter darüber sagen.«
Nach einem Blick in seine Augen schüttelte Sarah mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck den Kopf. Wieder einmal war es ihr, als kenne sie ihn schon viele Jahre, und die Unumstößlichkeit seiner Meinung war ihr bewusst.
Al-Kismetbahr holte tief Luft, als er merkte, dass er in alte Gewohnheiten verfiel.
»Wenn es dir recht ist, würde ich dich gerne bei einer guten Freundin absetzen. Sie ist die Frau von Hamadi Fathallah, dem befreundeten Regierungsbeamten aus der heutigen Gruppe. Nailah Fathallah hat ein gut gehendes Geschäft in Kairo. Sie kann jede Frau in jeder gewünschten Form einkleiden, und zur Entspannung gibt es auch noch ein Café. Männer wirst du dort nicht finden, aber ich denke, Nailah wird dir gefallen.«
»Soll ich mir dort die Kleidung besorgen, von der du sprachst?«
»Nur, wenn du willst. Lass dich von ihr beraten, wenn dir nichts gefällt, kaufst du nichts.«
In der Zwischenzeit waren sie schon in Kairo angelangt und fuhren gerade über eine Brücke, um auf die andere Seite des Nils zu kommen. Kurze Zeit später hielt Karim am Rande einer belebten Einkaufsstraße. Nach wenigen Metern Fußweg liefen sie an den gut dekorierten Schaufenstern und dem Eingangsportal eines Bekleidungsgeschäftes vorbei, dessen Auslagen nur strenggläubige Muslime anzusprechen schienen.
Al-Kismetbahr führte Sarah nach dem letzten Schaufenster in einen offenen Hauseingang, folgte der Treppe in den ersten Stock und klingelte an einer unscheinbaren