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Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel
Читать онлайн.Название Die Entleerung des Möglichen
Год выпуска 0
isbn 9783753181400
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
“Weil ich vorher an meinen Bruder denken musste.”
“Und du findest, dein Vater hatte zu wenig Verstand?”
“Er war kein sehr heller Kopf. Er hatte andere Qualitäten.”
“Ich beneide Leute manchmal darum.”
“Worum?”
“Um ihre Einfalt - als Teil des eigenen Immunsystems. Es schützt.”
Oskar trinkt von dem Calvados. Der Vater seiner Frau, kommt es ihm in den Sinn - das vergaß sie eben noch hinzuzufügen - war ein Weiberheld. Wenn sie von ihrem Elternhaus erzählt, sinnt er weiter, ist es stets, als geschehe es zum ersten Mal. Sie tut es mit einem gewissen Staunen, so als wundere sie sich, einmal Kind gewesen zu sein.
Am anderen Ende des Platzes ist ein Blumenstand. Neben dem Blumenstand verkauft ein kleiner Junge frische Erdbeeren. Jeden Donnerstag ist Wochenmarkt. Wenn Oskar und Constanze Fisch essen, was sie häufiger tun, besorgen sie ihn hier.
“Meine Eltern waren im Grunde beide sehr konservativ. Meine Mutter kaufte beispielsweise ausschließlich einheimische Produkte.”
“Wieso sagst du, waren? Deine Mutter lebt doch noch?”
“Ja. Jetzt im Alter ist sie milder. Wir Kinder waren früher immer ängstlich darauf bedacht, alles richtig zu machen, was erklärt, warum wir in vielem so sind, wie wir sind… Wie war das bei dir?”
“Anders.”
“Aber in deiner Familie gab es doch auch mannigfach Spannungen, Konflikte und Probleme?”
“Natürlich. Und wenn auch: Es gibt für jede Lösung ein passendes Problem.”
“Beschäftigt dich nicht, was dir aus deiner Kindheit an unaufgelösten Resten geblieben ist?”
“Wozu?”
“Zur Vergangenheitsbewältigung.”
“Ich kenne niemanden, der seine Vergangenheit bewältigt hätte. Noch ein Stück Kuchen, Stänzchen?”
“Danke.”
“Danke ja oder danke nein?”
“Danke ja.”
“Hier bitte. Außerdem, ich schaue nicht zurück.”
“Wohin schaust du denn dann?”
“Nach vorne, Schatz und gelegentlich, wie du, in den Spiegel.”
“Da siehst du doch noch gar nichts, vorne, meine ich.”
“Das gilt vielleicht für andere. Gibst du mir noch mal den Zucker rüber?”
“Du isst zu viel Süßes.”
“Jetzt redest du wie meine Mutter.”
“Ich finde, du gehst zu sorglos mit deiner Gesundheit um.”
“Man lebt eben so, als ob das Leben kein Ende hätte.”
“Das kann ziemlich gefährlich sein.”
“Vergiß nicht, das Leben ist nur ein Traum.”
“Wer hat das noch gleich gesagt?”
“Jemand, der daraus erwacht ist.”
“Ich für meinen Teil denke oft über den Tod nach.”
“Das macht ihn nur lebendiger.”
“Das musst du mir erklären.”
“Nein, ich erkläre jetzt nichts mehr…”
*
“Was ist das für ein Buch, das du da liest, Oscar?”
Der Angesprochene sah auf, ließ die Frage jedoch offen. Das konnte er, denn der Fragesteller erwartete, wie es schien, gar keine Antwort. Der Fragesteller war Frank Freyer-Mohun. Es kam nicht oft vor, dass Mohun eine Parkanlage betrat. Heute tat er es. Sicher nicht des Wetters wegen, das sich von seiner geschmeidigsten Seite zeigte. Mohun setzte sich neben Oscar auf einen der hiesigen, stiftdünnen Metallstühle. Es herrschte munteres Treiben in den Tuilerien.
“Ich finde selten Zeit zum Lesen, und wenn, dann muss es ein Roman sein, in dem drei Dinge vorkommen: Frauen, Zigarren und schnelle Autos.”
Die Zahl drei, befand Oscar, schien Mohuns Lebenszahl zu sein. Er legte seine Lektüre beiseite und schlug die Beine übereinander. Er fragte sich wieder einmal, wo eigentlich Mohuns indisches Erbe lag? Und er kam, wie so oft, zu dem Ergebnis: es gab keines. Oder verbarg es sich hinter seiner kurvenreichen Geschäftstüchtigkeit, seiner tigerkatzenhaften Vorsicht? Sein Nebenmann spreizte indessen eine seiner kleinen, feingliedrigen Hände und studierte die akkurat geschnittenen Fingernägel. Seine Miene blieb dabei ausdruckslos.
“Du bist sicher nicht hier, um mit mir über Bücher zu reden?”
“Erraten, mein Freund.”
Der kurze, zweisätzige Dialog hätte aus einem solchem stammen können, einem Buch nämlich. Er fand zunächst keine Fortsetzung. Mohun ließ sich Zeit mit einer ausführlichen Erklärung. Er tat, als studierte er seine nähere Umgebung, die flanierenden Leute, das flüsternde Laub der Bäume, die fleißig pickenden Spatzen, die rastlosen Automobile, die die nahe Place de la Concorde wie Kugeln in einem Roulette Rad umrundeten. Eine Szenerie aus dem Poesiealbum.
“Hast du die Kurve gekriegt?”
“Was meinst du?”
“Du weißt schon, was ich meine.”
“Du meinst meine Scheidung? Ja, sie ist eingereicht.”
“Du brauchst lange, bis du mal eine Entscheidung fällst, nicht wahr, mein Freund?”
“Das kommt darauf an.”
“Egal, ich lade dich jetzt ein auf ein Glas Wein. Wir müssen deinen Abschied vom Ehestand feiern.”
“Du kennst meine geschiedene Frau doch gar nicht.”
“Eben darum.”
Sie marschierten ein Stückchen zu Fuß. Sie marschierten die Prachtstraße hinauf, die im Grunde keine war, die Champs-Elysées. Oscar ahnte, dass Mohun einen anderen Anlass hatte, ihn beiseite zu nehmen als den, den er genannt hatte. Mohun war ein Mann der Tat, doch in manchen Dingen konnte er verschlungene Umwege beschreiten. Als sie dann beim Wein saßen, erfuhr Oscar den wahren Grund. Es ging um Mohuns Vater. Ja, selbst Mohun hatte einen Vater. Es gab Leute, bei denen vermutete man das gar nicht. Und Mohun hatte Probleme mit seinem Erzeuger. Er wollte nicht zu viel darüber mitteilen, nur soviel, dass Oscar sich ein Bild davon machen konnte, welche Aufgabe ihn erwartete.
Er war nicht begeistert von dem, was Mohun ihm vorzuschlagen hatte. Es war im engeren Sinne auch kein Vorschlag. Doch würde er, Oscar, es wohl tun. Es würde ihm, wie er unhörbar seufzend feststellte, am Ende nichts anderes übrig bleiben. Er fragte sich, während er kleinlaut sein Jawort gab, was er hier eigentlich machte, was er die letzten Monate,