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"Sie m ö chte f ü r sich sein. Soll ich dir Kaffee einschenken?"

       "Gib mir eine Minute."

      Timo kehrt ins Haus zurück. Er will zuvor noch aufs Klo. Das gehört, denkt Oskar, zu den täglichen Verrichtungen, an deren Sinnhaftigkeit kein blasser Zweifel nagt. Es gibt nicht vieles, von dem sich das sagen ließe.

      Ein Singvogel kreuzt polyphon zwitschernd sein Blickfeld. Oskar vermutet, dass es eine Amsel ist. Er hört auf, die Zigarette zwischen zwei Fingern zu drehen. Er zündet sie an. Er steckt sie sich zwischen die Lippen. Er wartet. Auf nichts. Wenigstens glaubt er das.

       "Seit wann rauchst du?"

       "Seit wann fragst du?”

      Timo ist wieder da. Er steht am selben Fleck, an dem er zuvor gestanden hat. Man könnte glauben, er sei gar nicht weg gewesen. Er setzt sich zu Oskar an den Tisch, reckt die Arme, grunzt behaglich, streckt die unbekleideten Beine von sich, die er gerne zeigt, was er auch kann, denn sie sind kräftig und wohlgeraten. Ebenso wie Constanzes Beine, die lang sind, schlank sind und alterslos erscheinen. Oskars Beine hingegen ragen etwas knochig und ungerade in diese Welt.

       "Ein makelloser Tag, nicht wahr?"

      “Ja."

       "Das Leben ist doch sch ö n."

       "Soweit w ü rde ich nicht gehen."

       "Komm, O ss, nimm einem nicht die Freude, von der Sch ö nheit der Dinge zu reden."

       "Er stammt nicht von mir, der Kommentar eben. Es ist ein Zitat."

       "Aber du schließt dich dem an, oder wie?"

       "Vielleicht. Es ist auch egal. Vergiss es einfach."

       "Es ist der Streit mit Conny, der dich so bitter reden l ä sst, oder?"

       "Ich bin nicht bitter."

      “Sollen wir ein anderes Thema wählen?

      “Reden wir über das Wetter.

      Das haben sie ja bereits getan. Der Freund erinnert Oskar mit einem Lächeln daran. Timo findet doch immer etwas, sagt sich Oskar, worüber er lächeln, wenn nicht gar lachen kann. Er drückt die Zigarette, halb zu Ende geraucht, im Eierbecher aus.

      Sie könnten seinetwegen auch über die Zukunft reden, über die Jahreszeiten oder, ganz global, über den Gregorianischen Kalender. Welche Farben mögen den kommenden Februar kleiden? Und was trägt im Sommer der August? Momentan kennt Oskar keine bevorzugten Themen. Momentan ist es ihm schnurz, worüber sie sprechen. Worüber man spricht. In der Morgenzeitung las er, wie so häufig, von Selbstmord-Attentaten, von Folter, Terror und Erpressung, von Betrug und Raffgier. Als ob es nichts anderes gebe! Nachrichten wie Schüsse aus dem Hinterhalt. Hin und wieder meldet sich eine Liga zur Bekämpfung des Bösen in dieser Welt zu Wort. Meinen Sie es ernst? Sehen sie sich davon unbefleckt? Würde man es ausmerzen können, das Böse, wäre dieser Planet menschenfrei. Timo schenkt sich von dem Kaffee ein. Mit Dauerlächeln.

      You are not logged in. Das müsste man aber sein, um mitreden zu können. Er will nicht mitreden. Nicht heute. Vieles von dem, findet Oskar, was für real ausgegeben wird, für unverzichtbar, ist nichts anderes, als die Firnis grober Fantasien unter der Hirnschale des jeweiligen Betrachters. Es finden sich nachträglich stets Gründe, das, was man tut, als das auszugeben, was getan werden muss. Denkt er da jetzt an etwas ganz Bestimmtes? Nein. Das ist auch nicht nötig. Aber er scheut den Geruch, den diese Vorstellungen ausströmen. Es ist der Geruch von alten Füßen.

      Er kann sich immerhin erinnern, schon einmal weiträumig all jene Ereignisse und Vorgänge umschifft zu haben, die nicht unmittelbar in seiner Lebensreichweite lagen. Er gewöhnte sich seinerzeit an, sie, so sie ihm nahe kamen, sukzessive wegzufiltern, als wären sie Spam in seinem elektronischen Postfach. Das nahm in einer Phase seinen Anfang, als er mit seinen beiden Kollegen eine eigene Firma gründete, das Architekturbüro Räume&Perspektiven. Es setzte in seinem Leben so etwas wie feste Richtungsmarken, woran vorher ein gewisser Mangel gewesen war.

      Da hatte es überdies diese unablässigen Stimmungsschwankungen gegeben, die seinen Schlaf unruhig und seine Tagfantasien konfus gemacht hatten. Das hörte dann endlich auf. Wohl auch deshalb, weil er zu beschäftigt war. Er hatte einfach zu viel um die Ohren. Er kam zeitweise nicht einmal mehr dazu, sich Gedanken über das Wetter zu machen, über alltägliche Themen also, die in aller Munde waren, zu denen jeder eine persönliche Meinung, eine eigene Beziehung hatte, noch weniger bewegten ihn komplexere Fragen wie die nach der Vermehrungsrate von Nacktschnecken oder der Notwendigkeit von Magenspiegelungen.

      Er hielt, während er rastlos tätig war, den Blick stets strikt geradeaus gerichtet. Das beschränkte das Gesichtsfeld. Man sah so, jenseits der horizontalen Begrenzungslinie, die man selbst gesetzt hatte, nicht, was unterhalb geschah, den Unterleib der Dinge gewissermaßen. Man sah lediglich die Brustansicht, einen Ausschnitt ähnlich dem, den man vom Fernsehen kannte, wenn Ansagerinnen oder Ansager die täglichen Nachrichten verlasen. Natürlich verhielt es sich allgemein stets so, dass man nur Ausschnitte eines Ganzen erfasste, doch im vorliegenden Fall beschränkte er den Ausschnitt zusätzlich und mutwillig. Da konnte es schon einmal zu fatalen Irrtümern kommen, zu vermeidbaren Irrtümern. Betrachtete er, wie einmal geschehen, eine Frau und einen Mann, der Mann dicht hinter der Frau sitzend, beide rhythmisch schaukelnd, auf und nieder, vor und zurück, und sagte sich: die kopulieren, so musste er bei genauerem Hinsehen feststellen, dass das Paar in Wahrheit auf dem Rücken eines Maulesels saß und durch eine Wüste ritt. Und woher stammte dieses Bild? Aus dem Reiseprospekt? Aus dem Neuen Testament?

      “Was grübelst du da, Oss?

      “Sehe ich so aus, als ob ich grüble?

      “Genau so. Ich kenne diesen Ausdruck bei dir.

      Oskar klappt das Stirnrollo nach unten. Man könnte auch sagen, seine Miene verfinstere sich. Häufig, wenn er sich ärgert, rudern seine Gedanken ins Allgemeine. Er hat sich heute morgen geärgert.

      Constanze machte ihm wieder einmal zum Vorwurf, er wäre halbherzig in seinen Entscheidungen. Er lasse sich immer eine Hintertür offen. Das sei schon so gewesen, als sie einander kennen lernten. Sie habe es nur erst spät bemerkt. Der Zusammenhang, in dem ihre Worte fielen, ist ihm abhanden gekommen. Es ist auch nicht weiter wichtig. Wichtig ist, sie hat im Grunde recht. Im Geschäftlichen scheut er kaum ein Risiko. Aber privat meidet er fast jede Strömung, bleibt lieber am sicheren Ufer zurück. Es gab viele Gelegenheiten, bei denen er gern mehr aus sich heraus, mehr ins Ungewisse gegangen wäre. Aber er hat sich nicht getraut. Er scheute vor dem emotionalen Abenteuer zurück, davor, Umstände einzugehen, die seiner Kontrolle entzogen waren. Er bezog einen quasi chinesischen Standpunkt.

      Er tut es immer noch. Das begann schon in der Jugendzeit oder früher. Es gab da über dem Eingang zu der Schule, wo er in die Tanzstunde ging, einen Spruch: Lieber schlecht tanzen als sitzen bleiben. Der Spruch gefiel ihm nicht.

      *

      Sie waren zu fünft seinerzeit: Freddy Lenz, Lo Kastor, Pim Reiser, Carmen Soraya und er. Er nannte sich Oscar Forte und war der Spaßmacher der Truppe. Alle, bis auf Freddy, hatten sich Künstlernamen zugelegt. Ihre Combo trat unter dem Namen Rat Cat auf. Das war, wie er später fand, ein idiotischer Name, dafür war er aber in englisch.

      Oscar drehte die Schallplatte. Warum hatte er Varga das erzählt? Vielleicht, weil er - im Gegenzug - auch einmal ein paar persönliche Schnipsel in ihre Gespräche einfließen lassen wollte. Waren sie denn persönlich? Ja und nein. Auf der Rückseite der Plattenhülle fanden sich Infos über den Künstler. Antônio Carlos Jobim.

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