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Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel
Читать онлайн.Название Die Entleerung des Möglichen
Год выпуска 0
isbn 9783753181400
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Es war, soweit er sich erinnern konnte, sein erster Aufenthalt auf einem Friedhof, aus freien Stücken. Er mochte es nicht, auf Friedhöfe zu gehen. Einmal hatte er gemusst, nämlich als sein Vater beerdigt worden war. Er entsann sich dessen kaum, wollte es auch gar nicht. Ein Friedhof, sagte er sich, war nicht der passende Ort für Musik und Tanz, ungeeignet auch für die sterbliche Liebe, und Träume endeten hier vorzeitig mit Genickstarre. Ein schwarzromantischer Zweizeiler flog ihm unversehens durch den Sinn, während über ihm der Ruf einer Amsel tönte: Auf famosen, selbstgerechten Steinengrüften kümmern Nelken, Rosen, Hyazinthen über Trümmern von Gebeinen in von schlechten Düften welken Lüften.
Die Grabsteine, die Mausoleen, die wie aufgerichtete Schuhkartons in der Gegend herum standen, hatten etwas düster Mahnendes. Warum mussten sie übrigens stets diese spröde Kastenform haben, warum konnten sie nicht wie Hutschachteln aussehen, die ja bekanntlich in aller Regel handschmeichelnd rund waren?
Auch Bäume fanden sich nur in geringer Anzahl. Und die, welche es gab, standen barhäuptig, was der Jahreszeit zuzuschreiben war, keiner Andacht. Dafür streunten Katzen umher, in rauen Mengen. Oscar mochte Katzen. Doch die hiesigen, dachte er, haben einen anderen Geschmack als ich. Sie lebten auf dem Gelände und schienen es zufrieden. Aber sie taten es womöglich auch deshalb, weil sie von den Zweibeinern an dieser Stätte in Ruhe gelassen wurden, oder aber aus der Genugtuung heraus, ihre Pfoten auf tote menschliche Gebeine setzen zu können.
Oscar traf auf ältere Frauen, die unterwegs waren, um die Tiere zu füttern. So manch gefiederter Freund bekam dabei gleichfalls einen Bissen ab. Menschliches Jungvolk sah man kaum. Das hatte anderes im Kopf. Das hatte nichts verloren in einem Bezirk, wo sich der Raum anders als anderswo krümmte und die Zeit Gichtfinger besaß. Das hatte ja auch nichts mit Glück zu tun, und junge Leute waren schließlich Glückssucher, es sei denn, der eine oder andere unter ihnen entschied sich, weil ihm nichts Gescheiteres einfiel oder aus Weltschmerz, vor der Zeit für das Jenseits.
Oscar zog einen Vergleich, während er das sparsame Treiben auf den Wegen und zwischen den Gräbern beobachtete. Ihm erschien der Friedhof wie ein Tierpark. Er hatte das Verlangen, die Welt für einen Augenblick, aufgeteilt auf diese beiden Schauplätze, wie zwischen zwei gegensätzlichen Polen betrachten zu wollen. In beiden Fällen handelte es sich um Sperrbezirke. In beiden Fällen blieb das Leben, im einen Fall das freie, im anderen das ganze, ausgesperrt. Auch gab es nichts Unbehaustes, keine Jagd, keine Todesangst, keine Wunder, keine bösen oder guten Überraschungen, nicht Hunger noch Durst, dafür platte Langeweile... Gut, murmelte er, da ziehen wir jetzt mal einen Strich und gehen zu etwas Anderem über... Oscar fiel im Moment allerdings nichts Gescheiteres ein, als heiße Luft zu lassen. Wenigstens störte sich hier niemand daran. Die Toten waren schlechte Gerüche gewohnt. Sie standen längst mit Faulgasen und üblem Gestank auf vertrautem Fuß.
Die Sonne schien bruchstückhaft, genauer gesagt, man sah sie kaum. Das Tageslicht war glasig. Es wurde zeitig dunkel um diese Jahreszeit. Dem Licht nach zu urteilen, bröckelte der Tag aber bereits jetzt, obwohl es noch nicht spät war, vielleicht aus Mangel an Kalk. Oscar überlegte sich, seinem Magen etwas Gutes zu tun. Viele Angestellten hatten wahrscheinlich gerade ihre Mittagspause, denn es war ein Uhr. Ja, es war sogar schon ein Uhr durch.
Oscars Armbanduhr war kaputt. Er musste, wenn er die Zeit erfahren wollte, immer jemanden fragen oder nach einer öffentlichen Uhr Ausschau halten. Hier auf dem Friedhof, wo man sie nicht mehr brauchte, gab es natürlich keine. Außerdem, hätte es welche gegeben, wären sie ohnehin anders gegangen. Oscar hatte den Friedhof Père Lachaise von der Westseite her betreten. Er verließ ihn auf der Ostseite. Unvermittelt wurde ihm bewusst: es hatte ihn doch nicht so ganz ohne eigenes Zutun an eine Stätte wie diese verschlagen.
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