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Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel
Читать онлайн.Название Die Entleerung des Möglichen
Год выпуска 0
isbn 9783753181400
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sie stehen zwischen Bildwänden. Es ist die letzte Station ihres Ausflugs, der über den Tag hinaus, und damit länger als geplant, angedauert hat. Es ist der Wunsch seiner Frau gewesen, in diese Ausstellung zu gehen, die in einem Haus mit Garten draußen auf dem Lande stattfindet. Sie sahen bereits auf der Hinfahrt eine Ankündigung, genauer gesagt, Constanze sah sie, und ihr gefiel das Plakat. Es war in der Nähe von Pau.
Während seine Frau die ausgestellten Bilder beschäftigen, beschäftigt ihn der umgebende Raum. Er ist quadratisch. Man kann sich, denkt er, in einer Räumlichkeit aufhalten, die wie ein Würfel ist, aber es wird vielen, sollte es für lange sein, nicht gefallen. Und was ist mit dem Kreis. Will man ebenso nicht. Der Mensch braucht Asymmetrien. Das sagt der Baumeister in ihm, vielleicht ist es aber auch nur sein Sonnengeflecht.
Doch verrät er Constanze nicht, dass er das so empfindet. Sie würde womöglich annehmen, er habe in Wahrheit etwas gegen die Bilder. Sie mag sie nämlich. Sie sind gegenständlich - figurativ, wie sie sich ausdrückt. Oskar findet das Gemalte streckenweise naiv. Der Künstler ist persönlich anwesend. Es ist ein freundlicher, älterer Herr. Er trägt einen blauen Anzug und Brille. Er sieht eher nach einem Buchhalter aus. Constanze unterhält sich mit ihm. Ihr Französisch ist besser als das seine. Das ist nicht der einzige Grund, warum Oskar an dem Gespräch nicht teilnimmt. Seine Frau nimmt ihn später beiseite.
“Es war sehr interessant, sich mit dem Künstler zu unterhalten.”
“Ah ja.”
“Ich finde, seine Bilder haben etwas Kindliches, in einem höheren Sinne.”
“Kindliches, hm, ja.”
"Er sagt, er musste so alt werden, um so jung zu malen."
“Wie alt ist er denn?”
“Das ist jetzt doch nicht so wichtig... Er sagt auch, er sei sehr um Deutlichkeit bemüht. Er strebe klare, strenge, eindeutige Aussagen an in seinen Bildern, einfache Wahrheiten, sozusagen.”
“So, aha.”
"Er sagt, er habe nicht die Absicht, als Geheimnistr ä ger in die Geschichte einzugehen."
"Die Frage ist wohl eher, ob er ü berhaupt in die Geschichte eingehen wird."
“Oskar!”
“Entschuldige, Stänzchen. War jetzt nicht so gemeint.”
Sie trinken noch einen Kaffee und essen selbst gebackenen Kuchen. Die Gefährtin des Malers, eine junge, hagere, maskuline Frau mit Christus-Zügen und langen Haaren, verkauft die Sachen an einem kleinen Stand im Eingangsflur des Hauses, das eine umgebaute Bauernkate ist. Sie verkauft auch selbst gebackenes Brot und natürlich Kataloge mit einer Werkschau der Bilder ihres Mannes. Eine Preisliste zu den Bildern, das ist klar, darf ebenfalls nicht fehlen. Oskar schaut nicht hinein. Er ist ungeduldig und froh, als sie endlich aufbrechen. Er legt beim Hinausgehen einen Arm um seine Frau. Sie lässt ihn gewähren, bleibt selber aber passiv.
Da es wohlig warm ist, und noch nicht spät, fahren sie den Rest der Strecke offen. Das Autofahren in Frankreich ist, findet Oskar, abseits der großen Straßen wunderbar. Er sagt es Constanze. Er sagt es nicht zum ersten Mal. Und dieses Mal gibt sie ihm recht.
Das Blau über ihnen ist blitzsauber. Einige Wölkchen ziehen, bilden Streifen. So hat Oskar ihn am liebsten, den Himmel, und weit sollte er sein. Hier ist er das. Man muss, äußert er irgendwann in friedlicher Tonlage, die Dinge im größeren Maßstab betrachten, dann werden sie kleiner, weniger bedeutend, und am Ende, ist er versucht hinzuzufügen, unterlässt es aber, sieht man sie, mit etwas Glück, in keiner Übertreibung. Er denkt kurz an das, was einst sein Deutschlehrer über einen bedeutenden Philosophen sagte, Oskar meint, sich zu erinnern dass es Hegel gewesen ist:
"Wenn sein leuchtender Geist an eine Laterne pinkelte, dann ging die Laterne aus."
*
Er trug jetzt gelegentlich Hut.
So wie heute. Er lüftete ihn vorübergehend. Im Grunde wäre es richtiger zu sagen, er lüftete seinen Kopf. Das war bitter nötig. Denn das was sich zugetragen hatte, war keinem unglücklichen Zufall geschuldet. Konnte ein Zufall unglücklich sein? Er, Oscar, war es jedenfalls.
Die gesammelte Zerstörungswut einer Nacht war, als habe sie die Leiche des Tages gefleddert, wie ein Fluch über ihn wie auch über andere gekommen. So empfand er es, sich selber sah er dabei als jemand, der letzthin ein Unbeteiligter war. Er hatte nichts angestellt, oder vielmehr: manches unterlassen. Das eben mochte seine Verfehlung sein. Man muss sich regen, hatte er, wieder nüchtern, andern Tages gedacht, um nicht versehentlich das Ziel jener Blitzschläge zu werden, die das Schicksal in den Magazinen einer unendlich launischen Freigebigkeit bereithält, um sie mehr oder minder wahllos und oft unangemeldet auf Teile der Menschheit loszulassen.
Nun, über diese Einsicht war es Mittag geworden. Und gegen Mittag hatte er ja das Haus verlassen. Da stand er also, Ecke Rue Vaugirard und Rue Guynemer und kratzte sich auf eine Weise, die etwas Hilfloses hatte, am Kopf. Im hellen Sonnenschein sieht man jedes Staubkorn. Und so kam er sich vor: wie ein Staubkorn. Er sammelte sich und dann seine Eindrücke. Das Resultat fiel niederschmetternd aus. Wenn er achtzehn Stunden zurück blickte, sah er ein Klassentreffen blind taumelnder, zahnloser Augenblicke.
Und es stieß ihm sackweise auf. Man hätte vielleicht versuchen sollen, für die Probleme, die es gab, rechtzeitig eine Lösung zu finden, was aber vermutlich schwer gefallen wäre. Mehr Erfolg versprach im gegebenen Fall einzig wohl die Maßnahme, all das, was die Probleme verursachte, gar nicht erst zum Zuge kommen zu lassen. Ohne Hoden kein Hodenkrebs. (Nur als Beispiel)
"Lauf weiter!"
"Warum?"
"Lauf schon!"
"Wohin?"
Er folgte ihr, verwirrt, sein Tempo beschleunigend, denn er musste es beschleunigen, sonst hätte er sie aus den Augen verloren. Sie warf die Arme durch die Luft, während sie lief, wie ein Vogel im Flug. So, dachte er, laufen nur Frauen. Sie waren auf der Höhe des Kaufhauses Samaritaine. Da waren sie zuvor drinnen gewesen. Und sie hatte, ohne dass er oder jemand anderes davon etwas mitbekam, ein paar Sachen, darunter eine Flasche Chanel No. 5 sowie eine Halskette, windschnell in ihrer Handtasche versenkt. Doch dann, bei ihrem nächsten Diebesgut, wurde sie von einem Kaufhausdetektiv beobachtet. Es gab aufgeregtes Geschrei, und sie rannte davon. Oscar rannte, da ihm nichts Besseres einfiel, ratlos hinterdrein. Jetzt ging es über die Pont Neuf. Und weiter. So hatte es begonnen, gestern früh. Es war nur die Ouvertüre gewesen. Stunden später folgte der eigentliche Hauptakt. Aber der vollzog sich in einer anderen Aufführung.
Der Morgen danach. Die Sonne strahlte trügerisch auf eine Mauer des Irrsinns, die vor seinen Augen endete oder bereits früher. Er war sich darin nicht sicher, nein, er wusste es nicht. Doch fühlte er den Schmerz, einen Schmerz, der pochte, unmittelbar hinter seinen Schläfen pochte er, in Moll, gastierte dort, kaum Pausen einlegend, eigentlich gar keine, mal massiv, mal tröpfchenweise, aber immer aktiv, sozusagen allgegenwärtig.
Oscar war erschöpft. Er würde heute keinen Widerstand mehr leisten. Er war willens, sich auf das Wenigste zu beschränken, auf eine Realität im Schattenriss. Ihm war sehr bewusst, dass das, was geschehen war, einen tiefen Einschnitt, eine Wendemarke, eine Zäsur bezeichnete. Jedem, der betroffen war, musste das bewusst sein. Er dachte an Vorgestern, an das Treffen mit Pepe. Da war der See der Ereignisse schon schlammig gewesen, aber die Luft noch klar.
"Hier, ich schenke sie dir."
"Ein Kompass wäre mir lieber.”
Pepe