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Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel
Читать онлайн.Название Die Entleerung des Möglichen
Год выпуска 0
isbn 9783753181400
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Das Universum rauscht gedehnt. Es kann noch nicht sehr alt sein, sonst, so sollte man meinen, w ü rde es schrumpfen. Er schnieft durch die Nase. Er will mit der Sache zum Ende kommen. Mit welcher Sache? Mit den unbezahlten Rechnungen? Mit dem Schlagen von Brennholz? Mit dem Anstrich der H ü tte? Mit der Schnittmenge? Er wird sich eine aussuchen. Welche? Egal. Er muss es jedenfalls jetzt tun. Er hat schließlich nicht die ganze Nacht Zeit. Er denkt das, obwohl es noch Tag ist. Er nimmt sein Schweizer Taschenmesser. Der Nachteil an diesen Mehrzweck-Werkzeugen ist, dass man immer in Gefahr ist, sich die Fingern ä gel abzubrechen, zumindest einen. Es wird nun doch sehr rasch dunkel. Neumond. Nichts f ü r ihn Sichtbares bewegt sich mehr. Was folgt, ist Erw ä rmung, Bewegung in anderer Gestalt, schnelle Bewegung, nachweislich nicht weniger. Etwas t ö nt. Das eingestrichene E. Er hat Appetit auf ein St ü ck Schweinefleisch. Er wird es niemandem erz ä hlen. Das geht nur ihn etwas an. Und den lieben Gott . Grü n wogt das Schilf, im Gegenlicht. Amen…
Timos Geburtstagsgabe: Gedichte, Textpigmente. Dies trägt den Titel: Der Baumeister. Oskar lässt das Büchlein sinken. Nonsens oder Hintersinn? Soll er sich angesprochen fühlen? Immerhin hilft es, die Gedanken von dem abzulenken, was vorhin und zu manch anderen Unzeiten in seinem Kopf den Ton angegeben hat: Ehezwist. Er wollte, es wäre machbar, in der Tonart des Gelesenen, den einen oder anderen Streit auszutragen. Es könnte seine Frau, das wäre seine Hoffnung, verblüffen, ihr, wo nötig, die Dauerklage aus den Segeln nehmen und dazu beitragen, die Standardformeln in ihren Wortwechseln durch ein paar geistige Radikale zu ersetzen.
Er ist als einziger noch wach. Vor ihm steht die fast leere Flasche Cognac.Timo schläft. Er schläft oben in dem Zimmer, in dem Oskar für gewöhnlich schläft. Constanze ist früh zu Bett gegangen. Das Haus liegt ruhig. Er hat die Terrassentür offen. Die Nacht ist sehr warm. Wärme ist, ach ja, Bewegung. Die Nacht ist also warm. Und sie riecht zeitlos und nach Fliederbeersaft. Man hört im Finstern draußen ein paar Grashüpfer zirpen. Vielleicht sind es ja gar keine Grashüpfer. Vielleicht ist es ja der Weltgeist.
*
Er kam mit der Eisenbahn.
Er hatte die Stadt nie zuvor besucht. Er fand sie schaurig. Selbst die Züge, die dorthin fuhren, waren hässlicher als andernorts. Liège hatte einmal Lüttich geheißen. Die Stadt war hinreichend bekannt, bekannter jedenfalls als er, der Besucher. Außerdem war er anonym unterwegs.
Es verschlug ihn nicht freiwillig ins Belgische. Der Auslöser war Mohun. Er sei doch Musiker, hatte er protestiert, und weder Späher noch Bote. Aber es hatte alles nichts geholfen.
Mohun hatte einen pflegebedürftigen, alten Vater, der allein lebte. Die Mutter war tot. Der Sohn besuchte ihn selten. Er schickte ihm in Abständen Bares. Jetzt sollte Oscar, da der Vater krank zu Bette lag, ihm Geld und Medikamente bringen und einen Vetter Mohuns aufspüren, der ebenfalls in Liège lebte. Mohun hatte angeblich keine Zeit, es selbst zu tun. Er bat Oscar deshalb, es für ihn zu erledigen. Mohuns Bitten hatten eine Eigentümlichkeit: sie duldeten keinen Widerspruch. Hätte Saloua die Sache nicht in die Hand nehmen können? Nein, denn Mohuns Vater mochte “Die Negerin” nicht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Also blieb es an ihm, Oscar, hängen. Also machte er sich auf den Weg. Nach Liège. Der Sommer faulte schon. Die Tage wurden kürzer. Die Reise begann im Regen und endete auch so. Während der Fahrt suchte er, es ging nicht anders, zweimal die Zugtoilette auf. Er hatte weichen Stuhl. Wolken aus Kohlenstaub zogen über das Land. Als er sein Ziel erreichte, war es dunkel. Im übrigen war es ja gar nicht sein Ziel.
Das erste, was er tat, als er aus dem Zug stieg: er ging in die Bahnhofskneipe. Ohne Bruder Martin würde es hier nicht auszuhalten sein. Das stand außer Frage. Natürlich hätte er unter gediegeneren Umständen einen nicht minder passenden Grund gefunden, dort einzukehren. Und wenn es darum zu tun war, aus wenig noch weniger zu machen, so hätte man den Auftakt durchaus als gelungen ansehen können. Es ging aber um etwas anderes, um was, das hatte er nach drei Stunden komplett vergessen. Er war so eingenebelt, dass er es gerade noch schaffte, sich in einer Pension neben dem Bahnhof ein Nachtlager zu sichern.
Er schlief bis Mittag. Den Tag über konnte er sich zu nichts aufraffen. Er ging nicht zu Mohuns Vater. Er schob es hinaus. Abends betrank er sich wieder. Im Grunde hatte er bereits nachmittags damit begonnen. Arznei des Tages, dachte er sich, ist die Dunkelheit. Sonst dachte er nicht viel. Nach Ablauf der folgenden Nacht, die er abermals in dem kleinen, schäbigen Hotel neben dem Bahnhof abschlief, stand er wie gehabt gegen Mittag auf. Mohun erwartete sicherlich von ihm, dass er sich bald nach seiner Ankunft bei ihm meldete, ihm eine Nachricht zukommen ließ. Er hatte aber nichts mitzuteilen. Er überlegte, ob er zunächst zu diesem Vetter aus Dingsda gehen sollte. Der Mensch stand im Telefonbuch. Er war Zahnarzt. Oscar ließ es. Er vertrank einen weiteren Tag, entfernte sich kaum aus der Gegend um den Bahnhof herum. Die Zeit verstrich. Sein Geld wurde knapp. Er nahm etwas von dem, was für Mohuns kranken Vater bestimmt war.
Am vierten Tag humpelte er. Schuld war ein Ekzem am linken großen Zeh. Um den Schmerz zu betäuben, musste er wieder Bruder Martin hinzuziehen. Am fünften Tag verließ er erstmals die Gegend um den Bahnhof und begab sich zu der Adresse, wo Mohuns Vetter, Dr. Labille wohnte. Er stand bereits vor dem Klingelschild, kehrte dann aber doch wieder um.
Am sechsten Tag endlich kam er seinem Auftrag nach. Zunächst meldete er sich telefonisch bei Dr. Labille. Dann suchte er den Kranken auf. Der war nicht allein. Eine Pflegerin war bei ihm. Der Vetter hatte sie bestellt, damit sich jemand regelmäßig um den Patienten kümmerte. Die Pflegerin war eine resolute, praktisch veranlagte Person. Das verlangte ihr Beruf. Sie trug Oscar, kaum dass er sich vorgestellt hatte, einen kleinen Dienst auf.
Wenn er gerade nichts Besseres vorhabe, könne er ja im Laden gegenüber eine Packung Windeln besorgen. Für den Hausherrn. Nun, Oscar hatte gerade nichts Besseres vor. Er kam der Aufforderung widerspruchslos nach. Offenbar, dachte er, ist der Alte so hinfällig, dass er ins Bett pinkelt. Die Pflegerin, ihr Name war Betty (nennen Sie mich "Betty", hatte sie ihm bei der Begrüßung gesagt) gab ihm Geld von dem Geld, das er ihr gerade zuvor ausgehändigt hatte. Es war das Geld, das Mohun ihm für seinen Vater mit auf den Weg gegeben hatte. Betty reichte ihm eine Banknote, nein, sie teilte sie ihm zu, mit einem Blick, der eine Betonwand hätte durchschlagen können. Sie hatte bleigraue Augen, die unter schweren Wimpern lagen. Sie war ohne Alter, das heißt, ihr Alter war schwer zu bestimmen; irgendwo jenseits der vierzig, schätzte Oscar. Doch verschätzte er sich gern in solchen Fällen. Außerdem war er heute nicht zum Schätzen aufgelegt.
Während er ging, die ihm aufgetragene Besorgung zu erledigen, verfolgte ihn dieser metallene Blick. Etwas an Betty erinnerte ihn an seine Mutter. Dabei gab es nicht die geringste Ähnlichkeit, von außen betrachtet. Die Pflegerin war kreuzhässlich, grobknochig und hatte die sexuelle Ausstrahlung eines Brühwürfels. Sie schien in allem eher das Gegenteil seiner Mutter. Es war auch nicht dieser unerbittliche Blick. Es war noch etwas dahinter. Es musste mit der Art zu tun haben, wie sie ihm gegenüber auftrat. Er war kurz davor, sich ein paar tiefer gehende, ausformulierte Fragen zu stellen. Er ließ es. Sie würden vielleicht nur einen Geist streifen, der bereits erloschen war, den Geist seiner Mutter. Es würden Gespensterfragen sein. Bringe deine Gedanken, hatte ihn seine Mutter früher oft ermahnt, erst einmal in die richtige Reihenfolge, ehe du sie aussprichst. Das gehört sich so.
Oscar schüttelte die Stimme der Vergangenheit ab, beschleunigte seinen Schritt. Seine Gedanken kehrten zu der Pflegerin zurück. Obwohl sie bislang kaum mehr als ein halbes Dutzend Sätze miteinander gewechselt hatten, nistete