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Rekonstruktion der Vergangenheit mit Versatzstücken aus der Gegenwart“ (Reiter 2006, 17), formuliert die österreichische Historikerin Margit Reiter. Erinnerungen aus der erlebten Zeit können mit späteren sowie gegenwärtigen Erfahrungen und Einflüssen aus der Medienwelt überlagert werden. Der deutsche Zeithistoriker Martin Sabrow nennt in diesem Zusammenhang Zeitzeug*innen als „Wanderer zwischen den Welten“ (Sabrow in Meissner 2014, 9). Neben individuellen Lebenserinnerungen als Ausdruck persönlicher Erinnerungskultur gibt es im öffentlichen Raum verstärkt ab den 1990er-Jahren sicht- und erlebbare Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses. Diese lassen sich in zwei Hauptkategorien mit verschiedenen Ausformungen gliedern. Zum einen stellen mediale Formen der Erinnerungskultur (Literatur, Filme, Aufzeichnungen von Gesprächen mit Zeitzeug*innen, virtuelle Archive etc.) Möglichkeiten dar, Erinnerungen zu bewahren und ins Gedächtnis zu rufen. Zum anderen fördern Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum (Gedenkstätte, Grab, Denkmal, Gedenkkreuz, Gedenktafel, Benennung einer Verkehrsfläche, Kunst-Gedenkinstallation, Mahnmal, Gebäude, Museum, Memorial, Stolperstein) das Nachdenken über die Vergangenheit und die Entwicklung einer Gedächtnislandschaft. Darüber hinaus bieten Gedenktage Gelegenheit, durch Teilnahme an Veranstaltungen den Speicher des historischen Gedächtnisses zu erweitern. In zahlreichen Gesprächen mit Menschen, welche die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten persönlich erlebten, haben die Verfasser dieses Artikels nicht nur Einblicke in die Erfahrungen der Frauen und Männer gewinnen können, sondern darüber hinaus Erkenntnisse, wie Menschen mit ihrer Vergangenheit umgehen. (Vsgl. Vonwald & Fritthum 2015 und Kainig-Huber & Doria 2015)

      2.3 Gelebte und erlebte Erinnerungskultur – Gedenken begehen

      Nachhaltig wird Erinnerungskultur, wenn die Begegnung mit ihr nicht als flüchtige Erfahrung wahrgenommen wird, sondern im historischen Bewusstsein Spuren hinterlässt. Zwei durch Geschichtslehrkräfte initiierte Möglichkeiten, um das historische Gedächtnis zu erweitern, stehen im Fokus dieses Abschnittes.

      3. Historisches Wissen – Schreckensherrschaft in Niederösterreich

      Das von Margarethe Kainig-Huber und Franz Vonwald verfasste Buch Schreckensherrschaft in Niederösterreich 1938–1945. Alltag in der nationalsozialistischen Zeit, erschienen zum Abschluss der ersten Projektphase im Oktober 2018, legt erstmals eine aktuelle Zusammenschau des Wissens über das nationalsozialistische Terrorregime für Niederösterreich vor. Das 400 Seiten umfassende Werk bietet in fünf Kapiteln eine Fülle von Informationen, Dokumenten, Hunderte von Bildern sowie berührende Schicksale, um Erinnerung für die Zukunft wachzuhalten.

      3.1 Machtübernahme der Nationalsozialisten

      Im ersten Kapitel der Publikation findet zunächst eine Beschäftigung mit der politischen Situation in Österreich vor der nationalsozialistischen Machtergreifung statt. Die Aktionen illegaler Nationalsozialisten werden dabei aus Sicht von Zeitzeug*innen ebenso beleuchtet wie der österreichische Weg in den Faschismus. Danach werden die Ereignisse zwischen dem Einmarsch von Truppen der deutschen Wehrmacht am 12. März 1938 und der inszenierten Volksabstimmung am 10. April 1938 dokumentiert. Die geografischen und politischen Veränderungen nach dem „Anschluss“ stellen einen weiteren Schwerpunkt dieses Kapitels dar. Einblicke in den Alltag im Dorf Ramsau bei Hainfeld zeigen den Wandel des Lebens im ländlichen Raum während der NS-Zeit auf. Anhand der Gauhauptstadt Krems werden sowohl Wohnbauprojekte der NS-Zeit, die Enteignung kirchlicher Güter und der Ausbau der Industrie exemplarisch dokumentiert. Weitere ortsspezifische Forschungsschwerpunkte sind das Kriegsgefangenenlager Gneixendorf, die Verbrechen im Zusammenhang mit dem „Zuchthaus“ Krems/Stein sowie der Widerstand und das jüdische Leben in Krems. Mit den Veränderungen im niederösterreichischen Schulwesen beschäftigen sich die letzten beiden Abschnitte dieses Kapitels. Reichhaltiges Quellenmaterial veranschaulicht die radikalen Umbrüche und die Erinnerungen ehemaliger Schüler*innen verdeutlichen, wie prägend die Umgestaltungen im Bereich Schule wahrgenommen wurden. Die Standorte der nationalpolitischen Erziehungsanstalten in Traiskirchen, Hubertendorf und Türnitz sind als Orte, an denen politische Elite herangezogen werden sollte, detailliert in Erinnerung gerufen worden. (Vgl. Kainig-Huber & Vonwald 2018, 9–63)

      3.2 Die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten

      Das zweite Kapitel widmet sich verschiedenen Opfergruppen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Den Beginn stellen Personen dar, die aufgrund ihrer Meinungen und Handlungen von den Nationalsozialisten als „Volksfeinde“ eingestuft wurden. Zudem wird offengelegt, was dazu führte, dass man Menschen als „asozial“ bezeichnete und wo in „Niederdonau“ es Arbeitserziehungslager mit unmenschlichen Bedingungen gab. Die rücksichtslose Verfolgung der Roma und Sinti verdeutlicht die Ohnmacht, die Ausbeutung und die Ermordung beinahe aller Angehörigen dieser Volksgruppen in Niederösterreich. Auch die Gewalt gegenüber Homosexuellen, zu der die Quellenlage dürftig ist, erfuhr Berücksichtigung. Die Beschäftigung mit Schicksalen von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren gewährt Einblicke in die Beweggründe, Risiken und Bestrafungen von Menschen, die nicht bereit waren, für Adolf Hitler zu kämpfen. Jehovas Zeugen, welche die einzige Religionsgemeinschaft waren, die sich aus Glaubensgründen geschlossen dem NS-Regime widersetzte, standen ebenfalls im Fokus der Forschung. Neben der theoretischen Darstellung des Verfolgungsapparats und der Justiz wurden mithilfe der Biografieforschung Einzelschicksale rekonstruiert. Die Untersuchung der Auswirkungen der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf die katholische und die evangelische Kirche lässt sowohl Anpassung als auch

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