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herzustellen“ (Fücker & Schimank 2018, 51), sodass diese im Leben jedes Individuums anschlussfähig werden. Literarische Texte (und damit auch literarische Repräsentationen wissenschaftlichen Wissens) tragen so aufgrund ihres inhärenten Vermittlungspotenzials „zur Sichtbarmachung von wissenschaftlichen Wissensbereichen […] und damit zur Erweiterung einer allgemein angestrebten ‚scientific literacy‘ bei“ (ebd., 54). Im Wechselspiel zwischen Fakt und Fiktion macht Literatur Wissenschaft also überhaupt erst lesbar und trägt so zur Entwicklung einer zukunftsbezogenen Bildung im Sinne der Futures Literacy bei.

      5. Erzählungen als literarische Zukunftswerkstätten

      Erzählen ist, so lässt sich festhalten, eine grundlegende Form des Zugriffs auf die Wirklichkeit und hat dabei orientierende Funktion. Dies gilt auch für die Imagination zukünftiger Szenarien, wie sich am Beispiel des Anthropozäns erkennen lässt, das selbst – wie gezeigt – auch als Narrativ gelesen werden kann (vgl. Hoiß 2019; Horn 2017). Es bündelt eine Vielzahl von Erzählungen, die zwischen dystopischen und eutopischen Zukunftsvisionen changieren und von beispielsweise normativer, präskriptiver, deskriptiver oder prospektiver Art sind.

      Das Besondere daran ist im Kontext des Anthropozäns nicht die Tatsache, dass über Zukünftiges oder komplett in oder gewissermaßen aus der Zukunft im Rückblick auf die Gegenwart erzählt wird – im Rahmen einer intradiegetischen Welt ist dies ein gängiges Merkmal für bestimmte Genre wie Science Fiction, Fantasy, Dystopien etc. –, sondern dass dabei auf eine zum Zeitpunkt der Handlung bereits vergangene Zeit referiert wird, die für die Rezipierenden die reale Welt der Gegenwart ist. Erzählungen machen sich eine Erprobungs- und Aushandlungsfunktion von Literatur zunutze und werden zu Spiel- und Denkräumen, in denen ohne Konsequenz und Risiko mit alternativen Modellen der Welt experimentiert werden kann (vgl. Bär 2017, 43). Erzählungen werden so zu literarischen Zukunftswerkstätten.

      Ein bekanntes und durchaus erfolgreiches Beispiel einer solchen literarischen Zukunftswerkstatt ist der 2004 erstmals erschienene Roman Der Schwarm von Frank Schätzing. Darin richtet eine intelligente maritime Lebensform (Yrr), die symbolisch für die Natur als Ganzes steht, seine Kraft gegen die menschliche Zivilisation. Es ist eine international vernetzte Wissenschaft, die in der Akkumulation globaler Zwischenfälle wie dem Verschwinden von Fischer*innen, Walangriffen oder bislang unbekannten Wurmkolonien Zusammenhänge erkennt, die – so erfährt man im Laufe der Handlung – von den Yrr im Meer koordiniert werden. Erst im Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik auf globaler Ebene entsteht die Voraussetzung für die Erforschung der Lebensform, ihre Funktions- und Kommunikationsweise. Dies ist die Basis für das weitere politische Vorgehen, die Yrr von der Beendigung der Angriffe auf die Menschen zu überzeugen.

      Schätzings Der Schwarm offenbart einen literarischen Ort, an dem wissenschaftliche, ethische, politische und gesellschaftliche Möglichkeiten durchgespielt und reflektiert werden (vgl. zum Folgenden Bär 2017, 43–46). Für den Anthropozändiskurs nicht untypisch ist dabei die Rollenzuschreibung des Menschen als Zerstörer, „der massiv in natürliche Abläufe und Prozesse eingreift, um ökonomische Interessen durchzusetzen, potenzielle Bedrohungen zu minimieren oder sein Leben im Sinne eines von ihm definierten ‚guten Lebens‘ führen zu können“ (ebd., 44). Der wissenschaftliche „Fortschritt“ entpuppt sich in diesem Zusammenhang als zweischneidiges Schwert: Er verursacht viele dieser Zerstörungen und zugleich schafft er durch die Zunahme an Umwelt- und Nachhaltigkeitswissen die Grundlage dafür, überhaupt erst ein Bewusstsein für die ökologischen Schäden und Kriterien für einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund spielt Der Schwarm verschiedene Zukunftsszenarien durch:

      • Möglichkeiten in der Beziehung zwischen Mensch und Natur werden diskutiert und anhand verschiedener Protagonist*innen vorgestellt – beispielsweise wird ein anthropozentrisches, die Natur unterwerfendes Weltbild einem systemisch-integrativen Naturverständnis gegenübergestellt, im Rahmen dessen der Mensch Teil der natürlichen Sphäre ist.

      • Angesichts einer bedrohlichen natürlichen Kraft werden unterschiedliche Handlungsoptionen präsentiert wie ein militärischer Gegenschlag, die Orientierung an Praktiken indigener Völker, die Erarbeitung eines ökozentrischen Bewusstseins sowie die Anerkennung planetarischer Grenzen.

      • Aktuelle lebensweltliche Diskurse werden auf ihre Legitimität und Praktikabilität hin geprüft wie etwa unterschiedliche Visionen von Gesellschaftsformen oder bestehende und neue Paradigmen in Wissenschaft und Politik etc.

      In Bezug auf die vorangegangenen Überlegungen zum Verhältnis von Fakt und Fiktion erscheint es zudem von Bedeutung, dass die Präsentation und Erklärung von Phänomenen und Fakten in der Handlung durch Wissenschaftler*innen vorgenommen werden. Diese kommunizieren dabei in einer doppelten Weise: zum einen im Rahmen der inneren Handlungslogik, um anderen (nicht-wissenschaftlichen) Figuren der Erzählung die Erzählwelt zu erklären; zum anderen in der Funktion einer Wissensvermittlung an die Lesenden. So lässt sich etwa aus den

      ausführlichen Beschreibungen bzw. Erklärungen geologischer wie biologischer Fakten [...] die Erzählabsicht ableiten, dass [die Leser*innen] Einsicht in komplexe Zusammenhänge einer (maritimen) Natur erhalten und den Einfluss menschlichen und damit auch des eigenen Handelns auf ein sensibles Ökosystem verstehen lernen“ (Bär 2017, 42f.).

      Beide Kommunikationsintentionen lassen sich daran erkennen, dass gerade innerhalb der wissenschaftlichen Fach-Community überwiegend auf Fachjargon verzichtet wird bzw. für Lai*innen verständliche Paraphrasen und Erklärungen an dessen Stelle treten.

      In solchen erzählenden Formen der Wissenschaftskommunikation entspinnen sich kontingente literarische Zukünfte. Diese Future Fictions (vgl. Hollerweger 2018) können dabei das gesamte Spektrum zwischen Ökotopia, Ökodiktatur und Apokalypse abdecken und bieten so auch ein diskursives Laboratorium für globale gesellschaftliche Herausforderungen.

      Als ein „literarisches Laboratorium“ (vgl. Rank 2014) ist beispielsweise die Lyrik-Anthologie All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän (Bayer & Seel 2016) zu betrachten, die in der Folge der Ausstellung „Willkommen im Anthropozän“ im Deutschen Museum in München veröffentlicht wurde. Die Herausgeberinnen Anja Bayer und Daniela Seel sammelten darin literarisch hochwertige Gegenwartsgedichte von rund 125 deutschsprachigen Autor*innen (vgl. etwa Yoko Tawadas Gedicht „Saftige Fehler“ im folgenden Kapitel). Anders als bei Frank Schätzing kann hierbei jedoch von einem deutlich höheren Grad an strategischer Wissenschaftskommunikation ausgegangen werden, handelt es sich bei der Anthologie doch um Auftragslyrik, welche die Möglichkeiten narrativer Sprache jenseits nüchterner Argumentation nutzt, um für die globalen Problemstellungen im Anthropozän (so die Prämisse) zu sensibilisieren.

      Die Entwicklung von Technikzukünften ist an sich nicht zwingend im literarischen Bereich anzusiedeln, sondern dient als

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