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Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren. Группа авторов
Читать онлайн.Название Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren
Год выпуска 0
isbn 9783706561921
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Pädagogik für Niederösterreich
Издательство Bookwire
Im Anthropozändiskurs werden mögliche Wirklichkeiten etwa in Form von dystopischen Katastrophenszenarien (vgl. Horn 2014 u. 2017) sowie utopischen Zukunftsbeschreibungen ausgestaltet. Oder es werden post- bzw. transhumanistische Szenarien durchgespielt (vgl. z.B. Heise 2015), eine weiter zunehmende Humanisierung und menschliche Vereinnahmung der Erde prognostiziert (vgl. z.B. Schwägerl 2012) sowie der Umgang mit humanoiden Existenzen thematisiert (vgl. Küppers 2018). Diese Szenarien und ihre mediale Repräsentation scheinen besonders in der zeitgenössischen Literatur einen starken Reiz auszuüben (vgl. z.B. Horn 2017; Schultz-Pernice 2017; Waczek 2017).
Dies lässt sich aus der Perspektive narrativer Ethik so analysieren, dass insbesondere Romane und Erzählungen, die das Leben anderer präzise schildern, dazu beitragen können, Solidarität zu schaffen: „Der Prozess der Sensibilisierung durch Literatur hilft uns, den anderen als einen von uns, statt als einen von jenen zu sehen“ (Rorty 1989, 16). Darum lassen sich Erzählungen als Eingriffsmöglichkeiten in die Kulturpolitik verstehen, da sie „die ethische Valenz menschlicher Handlungen“ (ebd., 30) darstellen. So wird es möglich, moralische Ebenen sichtbar zu machen und einen Wandel des Denkens durch die Vermittlung von Erfahrungen zu bewirken.
In ähnlicher Weise gesteht auch der Sozialphilosoph Hans Joas Erzählungen enorme Wirkung zu. Sie beginnen, wenn die Analysen enden; sie sind keine Alternativen, sondern umfassendere Begründungen, also argumentative Fortschreibungen mit anderen Mitteln. Auszugehen ist also „von einer Verschränkung von Argumentation und Narration“ (Joas 2012, 115). Für geschriebene Geschichten gilt dies allein schon aufgrund der Mechanismen des Lesewirkungsprozesses. Geschichten sind für das menschliche Gehirn offenbar die einfachste Form, Informationen zu verarbeiten, wie Untersuchungen der Kognitionspsychologie nahelegen:
Erzählungen können als eine besonders wirkungsvolle Technik betrachtet werden, mit der Menschen Informationen bündeln, strukturieren und kommunizieren. Geschichten transportieren dabei viel mehr als nur Fakten. […] Dabei erleben die Rezipierenden die Geschichten durch die Emotionalisierung der Erzählung und die empathische Spiegelung im wahrsten Sinne des Wortes mit. Neurobiologische Untersuchungen belegen, dass bei der Rezeption von erzählten Erlebnissen sowohl bei den Erzählenden als auch bei den Rezipierenden die gleichen Hirnareale stimuliert werden, die auch beim realen Erleben der entsprechenden Handlungen und Ereignisse aktiv sind. (Friedmann 2018, 195)
Bei der Textlektüre werden also, das zeigen auch Ergebnisse lesepsychologischer Forschungen, Emotionen ausgelöst, die ein relevanter Einflussfaktor beim Verarbeiten von Informationen sind. Empathie und Textverstehen unterstützen sich gegenseitig (vgl. Christmann 2003, 276). Zudem gibt es begründete Hinweise darauf, dass das kognitive und emotionale Involvement beim literarischen Lesen mit Empathiefähigkeit und sozialer Kompetenz einhergeht. Das kann zu einer „potenziell persönlichkeitsverändernden Kraft literarischer Lektüren“ (Groeben & Christmann 2014, 349) führen, da Kognition und Emotion interferieren:
Das kognitionswissenschaftliche Konzept von Kognition, als einem autonomen Repräsentations- und Prozessorsystem, muss jedenfalls revidiert werden. Kognitionswissenschaft und theoretische Linguistik müssen (an)erkennen, dass die lange als marginal erachteten Emotionen maßgeblichen Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten und sprachlichen Leistungen des Menschen haben und die strikte Trennung von Geist und Gefühl obsolet ist. (Schwarz-Friesel 2008, 297)
Erzählungen können also als ein integratives Medium angesehen werden, die den Rezipierenden mittels verdichteter Erfahrungen, d.h. durch die „prozessuale Interaktion von Emotion und Kognition“ (ebd.), einen emotional-anschaulichen Zugang zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen vermitteln. Zum einen bietet dies die Möglichkeit, nicht allein aus eigenen Erfahrungen, sondern auch aus denen anderer zu lernen und so das eigene Handeln weiterzuentwickeln. Storytelling spielt genau mit dieser Erkenntnis, wie ein vergleichender Blick zum Marketingbereich zeigt: Hier wird gezielt versucht, Wissensbestände über Firmen oder Produkte auf eine bestimmte Weise emotional aufzuladen. Zudem fungieren Erzählungen als Chance im Umgang mit Überkomplexitäten und ermöglichen die Aushandlung von Selbstwirksamkeitsstrategien durch die spezifische Weise des Zusammenwirkens von Ästhetik und Ethik: Literarische Formen der Vermittlung setzen auf ästhetische Gestaltungsstrategien, um ethisch-moralische Inhalte zu thematisieren. Literatur ist darum als Zumutung in einem positiven Sinn zu begreifen. Ihr wird eine Mittlerrolle zugeschrieben, da sie kognitive Eindimensionalität durch affektive Gestaltung zu bereichern und Bewusstmachungsprozesse einzuleiten vermag.
3. Storytelling als Strategie der Wissenschaftskommunikation
Narrationen fungieren im Anthropozän also als Vermittlungsmedien (vgl. Anselm 2017, 8). Indem sie bestimmte Diskurse führen, unterschiedliche Denkmuster und Positionen verhandeln sowie Sinn und Erkenntnis anbieten, können sie auf Seiten der Rezipierenden Reflexionsprozesse initiieren, Überzeugungen und Handlungsweisen auf den Prüfstand stellen und in der Auseinandersetzung der Lernenden mit in Erzählungen verhandelten Themen die Fähigkeit schulen, Wertentscheidungen bewusst zu treffen (vgl. Anselm 2012, 409). Diese Form des Storytellings wird als Strategie in der Wissenschaftskommunikation in doppelter Weise eingesetzt:
(1) Erzählungen vom Anthropozän ermöglichen den Menschen, ihre Wirklichkeit zu ordnen sowie zu deuten und damit als sinnvoll zu erfahren (Vogt 1997, 288f.). Vor diesem Hintergrund ist das Anthropozänkonzept selbst als Erzählung zu verstehen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend in den Massenmedien – zumeist eher unkritisch und distanzlos – aufgegriffen wurde und mittlerweile zu einer Rahmenerzählung bzw. zu einem Narrativ geworden ist. Im pädagogisch-didaktischen Kontext ist dies zu reflektieren, wie eingangs gezeigt wurde, um zu verdeutlichen, dass die Verwendung dieser Rahmenerzählung eine Positionierung besonderer Art und kein ungebrochen zu vermittelndes Faktum darstellt. Dazu bedarf es, vor allem wenn man das Anthropozän im Unterricht thematisiert, einer Metakritik, die eine Analyse der Entstehung sowie der zum Teil auch gegenläufigen Diskurse im Kontext des Anthropozän-Narrativs enthält (vgl. Hoiß 2019). Dafür eignet sich der von Klein und Martínez eingeführte Terminus der Wirklichkeitserzählungen, die „auf reale, räumlich und zeitlich konkrete Sachverhalte und Ereignisse […] referieren und […] in diesem Sinne faktuale Erzählungen [sind]“ (Klein & Martínez 2009, 9). Im Unterschied zu literarischen Texten, die Bezug auf die Wirklichkeit nehmen, verstehen Klein und Martínez in diesem Zusammenhang unter einer Erzählung eine „zeitlich organisierte […] Abfolge von Ereignissen“ (ebd.), wobei drei Typen zu unterscheiden sind:
Deskriptive Wirklichkeitserzählungen bilden reale Sachverhalte ab und sind an einer Wahrheitsfindung interessiert (etwa bei der Kontextualisierung und Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse). Dieser Typus stellt die Grundlage für die gesamte Diskussion um das Anthropozän dar: „Er besteht aus einem rein deskriptiven Zugang, der etwas über den momentanen Zustand des Planeten Erde (v.a. im Vergleich zu einem früheren Zeitpunkt) und den Einfluss der menschlichen Spezies auf diesen aussagt.“ (Hoiß 2019, 154) Dagegen wird bei normativen Wirklichkeitserzählungen „ein erwünschter Zustand von Wirklichkeit geschildert mit dem Ziel, eine bestimmte (gesellschaftliche oder individuelle) Praxis zu regulieren“ (Klein & Martínez 2009, 9). Im Anthropozändiskurs ist dieser Typus fast schon selbstverständlich an den deskriptiven Typus gekoppelt, nämlich immer dann, wenn aus den deskriptiven Wirklichkeitserzählungen heraus eine Verantwortung des Menschen für den Planeten, die Umwelt, andere Spezies, oder künftige Generationen abgeleitet wird (vgl. Hoiß 2019, 153ff.). Bei den sogenannten voraussagenden Wirklichkeitserzählungen geht es um die Beschreibung eines erwarteten künftigen Zustandes der Wirklichkeit mit der Funktion einer Festlegung