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Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren. Группа авторов
Читать онлайн.Название Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren
Год выпуска 0
isbn 9783706561921
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Pädagogik für Niederösterreich
Издательство Bookwire
Saftige Fehler
Wer hat die Wassermelone halbiert
Ihre nördliche Hälfte schwitzt
Wie ein kremiger Urlauber
Gewissen ins rosa Fleisch
Gestoßen auf eine Ader der verblassten Samen
Kernlos sollte sie werden
Manipuliert in der frisch gepressten Freiheit
Die Schatten winziger Samen
vermehren sich in einem
Polyesterklima
Viel zu klein, um den Satz zu beenden
Die Züchtung braucht keine Sonne
Der Winter liegt vor mir
Jedes Mal erneut
lauwarm und tödlich
Yoko Tawada (2016, 98)
Andererseits fungiert die Melone als Symbol für die Erde, deren nördliche Hälfte, der Globale Norden, wie der Rest der Welt nicht nur unter steigenden Temperaturen „schwitzt“, sondern auch aus Furcht vor den Folgen des Klimawandels. Diese werden mit zunehmend „lauwarm“ werdenden Wintern beschrieben, die letztlich für Menschen und bestimmte Tierarten „tödlich“ enden werden. Zugleich verweist die Zweiteilung der Melone auf zwei Welten: den reichen, ausbeuterischen Norden, der durch exzessiven Lebensstil – angedeutet durch den in Sonnencreme gehüllten „Urlauber“, der sein „rosa Fleisch“ vor der Sonne schützt und in Urlaubsländern „schwitzt“ – die Erdsysteme ins Wanken bringt; und dem armen Globalen Süden, der so unterprivilegiert ist, dass von der südlichen Hälfte gar nicht erst die Rede ist. Dass für diese „saftigen Fehler“ die Schuld und die Verantwortung bei den Ländern des Globalen Nordens zu suchen ist, daran lässt dieses Gedicht keinen Zweifel.
Neben spezifisch deutschdidaktischen Kompetenzen können im Rahmen einer stoffgeschichtlichen Beschäftigung speziell auch Gestaltungskompetenzen im Rahmen einer BNE gefördert werden. Die Schüler*innen erkennen globale Zusammenhänge, indem sie am Beispiel der Avocado den Einfluss des eigenen Nahrungsverbrauchs und Konsumverhaltens auf das Leben anderer Menschen, landwirtschaftliche Nutzflächen sowie die lokalen Märkte im Globalen Süden nachvollziehen. Dabei diskutieren sie gemeinsam über die ethische Bewertung des Konsums von Avocados, Mangos oder Melonen, wobei die Argumentation stets an die impulsgebenden Texte und Bilder rückgebunden wird. Auch Vorschläge, wie man zu einem sinnvollen Umgang in diesem – wie auch anderen – Nachhaltigkeitsdilemmata gelangen kann, sodass Situationen, die zu „Gewissensbissen“ führen, zunehmend vermieden werden, lassen sich in diesem Zusammenhang ebenso fachübergreifend entwickeln. Letztlich ist es im Bereich der Persönlichkeitsbildung grundlegend wichtig, die individuellen und kollektiven Leitbilder zu reflektieren. Daher beleuchten die Schüler*innen den eigenen und gesellschaftlichen Lebensmittelkonsum hinsichtlich sozialer, ökologischer, ökonomischer und ethischer Aspekte im weltweiten Kontext kritisch und lernen, nachhaltige und nichtnachhaltige Entscheidungen zu differenzieren. Die Schüler*innen erkennen darüber hinaus auch die negativen Auswirkungen des eigenen Konsumverhaltens auf die Lebenssituation von Menschen im Globalen Süden und berücksichtigen künftig diese sozialen Aspekte bei ihrer Konsumentscheidung aus einer Haltung der Solidarität heraus.
8. Relevanz von Erzählungen im Kontext von BNE und schulischer Werteerziehung
In der narrativen Gestaltung von Fragen des Anthropozäns kann ausgehend vom Fach Deutsch eine umfassende BNE gestaltet werden, die bisherige Denk- und Handlungsroutinen verändert und transformative Lernprozesse in Gang setzt. Dies konnte die Verschränkung der fachspezifischen mit den BNE-spezifischen Kompetenzen am Ende der vorgestellten Konkretionen zeigen. Dabei wurde deutlich, dass Erzählungen im Sinne narrativer Ethik nicht nur ein Ausdrucksmedium, sondern ein Modus der Selbst- und Welterkenntnis sind. Sie haben didaktische Funktion und können durch einen ganzheitlichen Weltzugang Reflexionsprozesse initiieren, Überzeugungen und Handlungsweisen auf den Prüfstand stellen. Schulische Werteerziehung nimmt diesen implizit enthaltenen Bildungsanspruch auf und fokussiert die Förderung kritischer Rezeptionsfähigkeit (vgl. dazu Anselm 2019; Bär 2019). Hierfür sind Klassenzimmer als Reflexionsräume wertvolle Orte, in denen diskursive Aushandlungsprozesse stattfinden können und sollen. Denn Erzählungen bieten die Möglichkeit, Handlungs- und Wertungskonflikte in einer ganz spezifischen Weise zur Sprache zu bringen. Dies wird allein schon durch die Gestaltung der Erzählungen mit einem häufig offenen Ende deutlich, welche die Entscheidungen zu den thematisierten Fragestellungen an die Rezipierenden zurückgeben. Erzählungen fungieren didaktisch gewendet als „geschützter Lernraum“ (Zimmermann 2021, 78), in dem den Lesenden bzw. Lernenden eine aktive Reflexionsrolle zukommt, weil ihre ethische Urteilskompetenz eingefordert wird.
Die Auseinandersetzung mit Erzählungen hat das Ziel, Lernende zu befähigen, ihre eigene – und damit verbunden auch die gesellschaftliche und globale Entwicklung – zukunftsfähig zu gestalten. Ihnen soll dadurch die Möglichkeit an die Hand gegeben werden, sich die Werte, Kenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, die für eine zukunftsfähige Gestaltung des eigenen Lebens und der Gesellschaft im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung notwendig sind (vgl. DUK 2011, 7). Eine transformativ gedachte BNE regt Lernende und Lehrende gleichermaßen zur gesellschaftlichen Teilhabe an (vgl. WBGU 2011, 24) und strebt angesichts der gegenwärtigen ökosozialen Umbruchprozesse danach, Lernende darauf vorzubereiten und zu befähigen, Handlungsoptionen systemisch zu verstehen, Herausforderungen kritisch zu reflektieren sowie sich ihnen situationsspezifisch zu stellen (vgl. Stoltenberg & Holz 2017).
Daraus ergibt sich eine zentrale Rolle für Bildungsakteur*innen, die zwar nicht die gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich oder kulturell bestehenden Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen haben, gleichwohl aber aus einer bildungstheoretischen Logik heraus „dem kollektiven Ziel der Erhaltung eines sicheren Handlungskorridors für die Menschheit“ (Hoiß 20019, 18) verpflichtet sind. Lehrende sind dabei nicht nur „ausführende Instanzen“ (Hoiß 2020, 165); wie die Lernenden auch „sind sie selbst Suchende nach einer resonierenden Positionierung“ (ebd.) im Denkrahmen des Anthropozäns, der nicht nur ein neues Rollenverständnis von Lehrpersonen (im Fach Deutsch) fordert, sondern auch die Möglichkeit eröffnet, die Funktion von Bildung zu reflektieren. Sie wird als menschliche Überlebensstrategie im Anthropozän verstanden:
Sieben und mehr Milliarden Individuen werden ab jetzt die Aufgabe haben, das Weiterleben unserer Gattung mit unserer einzigen Erde zu gewährleisten und zu gestalten. Ein hohes Maß an Bildung/Wissen/Kompetenz aller Menschen – und nicht nur von Eliten – ist dafür die Hauptvoraussetzung. Statt ‚Bildung‘ könnte man dazu ebenso gut und aufgabengerecht sogar besser ‚Menschheitserhaltungskompetenz‘ sagen.“ (Rosa 2017, 76)
Es zeigt sich damit ein Paradox: Während bislang der Mensch Überlebensstrategien benötigte, um gegen eine übermächtige Natur bestehen zu können, braucht er jetzt Kompetenzen, „um in Anbetracht seiner neuen Rolle als geologischer Faktor bestehen zu können und sich nicht selbst auszurotten“ (Hoiß 2019, 250). Darum ist die zentrale Aufgabe der Schule nicht zuletzt darin zu sehen, Bildungsprozesse anzuregen, innerhalb derer sich entsprechende Kompetenzen ausbilden können. Eine entscheidende Vermittlungsleistung kommt hierbei dem Storytelling als didaktisch reflektiertem Konzept zu: Erzählungen sind für eine Pädagogik des Narrativen relevant (vgl. dazu Saupe & Leubner 2017), wobei ein verantwortungsvoller Umgang mit ihnen Voraussetzung, Methode und Lernziel zugleich ist.
Literatur
Abraham, Ulf (2015). Literarisches Lernen in kulturwissenschaftlicher Sicht. Leseräume 2/2015, 6–15.
Anselm, Sabine (2021). Literaturunterricht und gesellschaftliche Verantwortung. Normative Implikationen von Werteerziehung im Deutschunterricht. In Ralph Köhnen & Björn Rothstein (Hrsg.), Normativität.