Скачать книгу

dem eigentlichen Wesen der Sprache ist es aber nun so eine Sache, denn dass sie ein Mitteilungsmittel sei und kulturell determiniert wird, ist keine historische, sondern eine eher moderne Sichtweise. Seit der Antike fragen sich Philosophen, was Sprache eigentlich für ein Ding sei, ob wir sie uns angeeignet hätten oder ob sie uns von Gott gegeben sei, wie Sprache unser Denken beeinflusse und vieles andere mehr. Aus diesen philosophischen Überlegungen haben sich im 19. Jahrhundert die Sprachwissenschaften herausgebildet. Gegenwärtig ist die Sprache ein Gegenstand, der neben Linguisten aber auch Biologen, Neurowissenschaftler, Soziologen und Wissenschaftler noch weiterer Disziplinen umtreibt.

      Wenn man die auf den ersten Blick so simpel klingenden Fragen formuliert, was Sprache sei und wozu wir sie hätten, dann wird man unterschiedliche Antworten bekommen, je nachdem, wen man fragt. Biologen oder evolutionäre Psychologen würden das Phänomen wohl am ehesten mit den angeborenen und im Zuge der EvolutionEvolution entwickelten kognitiven und anatomisch-physiologischen Anlagen erklären wollen. Soziologen hingegen würden Sprache im Kontext zu gesellschaftlichen Strukturen und Systemen verorten. Und auch Sprachwissenschaftler sind sich nicht immer einig, was denn der Gegenstand ihres Faches eigentlich ist. Für das 20. Jahrhundert lassen sich etwa 30 SprachauffassungenSprachauffassung finden, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden (vgl. ECKARD 2008). Diese Vielzahl an unterschiedlichen Herangehens- und Betrachtungsweisen liegt darin begründet, dass sie sich selbst durch Anlehnungen an zeitgemäße Theoriekonzepte anderer Disziplinen, wie etwa der Evolutionstheorie, legitimierten. ZEIGE (2001) weist darauf hin, dass es sich um Versuche handelte, „die nicht gegenständliche und darum schwer zu fassende Natur der Sprache in Anlehnung an andere Wissenschaften durch gegenständliche Analogien darzustellen“ (ZEIGE 2008: X).

      In diesem Zusammenhang sei auf drei Phasen in der Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft hingewiesen, die richtungsweisend für heutige moderne Sprachbetrachtungen gewesen sind. Zum einen ist dies die Hinwendung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Linguistik im Besonderen zu den Methoden der objektiven und empirisch erfolgreichen Naturwissenschaften. Ebenso wie es in den Naturwissenschaften möglich war, Phänomene exakt zu bestimmen, wollte man nun auch sprachliche Entitäten präzise und mithilfe von realem Datenmaterial analysieren können. Sprache war in der Betrachtung zuvor eher etwas Transzendentes gewesen; es ging weniger um konkrete sprachliche Phänomene als beispielsweise um den Zusammenhang von Sprache und WirklichkeitWirklichkeit.

      Damit nun exakte Analysen möglich werden konnten, musste man von einer rein epistemischen Sprachbetrachtung zu einer materialistischen Betrachtungsweise übergehen. Diese Entwicklung war Fluch und Segen zugleich. Ihr ist es nämlich zuzuschreiben, dass organistische MetaphernMetapher bis heute in der Sprachbetrachtung zu finden sind. So spricht man noch heute vom Sprachwachstum, vom Aussterben bestimmter Dialekte oder vom Verfall einer Sprache. Dass es lebendige und tote Sprachen geben soll, entstammt diesem Denken. Sprache wird in dieser Sichtweise als ein „Ding mit ihm innewohnenden Lebenskräften“ (KELLER 2003: 25) eingestuft und dabei sowohl unangemessen verdinglicht als auch irreführend vitalisiert. Dass man zugleich begann, Sprache als System zu verstehen und einer medizinischen Sektion gleich die Einzelelemente genauer zu fokussieren, ist die positive Folge dieses Umdenkens, denn sie begünstigte die Erforschung sprachlicher Einzelphänomene.

      Die zweite wichtige Zäsur in der Sprachbetrachtung wurde geprägt durch GUSTAV BERGMANN und wurde bekannt durch eine 1967 von RICHARD RORTY herausgegebene gleichnamige Anthologie mit dem Titel linguistic turn. Diese linguistische Wende in der Mitte des 20. Jahrhunderts bezeichnet Anstrengungen in der Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik, sprachliche Vermittlungsformen genauer zu untersuchen, also nicht mehr allein den Text als sprachliches Gebilde zu analysieren, sondern – und das ist die große Leistung – die sprachlichen BedingungenBedingungensprachliche dahinter zu erforschen. Diese Entwicklung geht also mit einer verstärkten Hinwendung zur Sprache selbst, das bedeutet zu den Bedingungen der Verwendung und Bedeutung sprachlicher Äußerungen, einher. Viele Vertreter des linguistic turn hatten das Ziel, nicht mehr die Dinge an sich zu untersuchen, sondern die Phänomene hinter den Dingen, wie etwa die sozialen und kulturellen Bedingungen, unter denen Sprache entsteht und unter denen sie sich verändert. Auf diese Weise lässt sich auch Sprachwandel nicht mehr als Ding an sich betrachten, sondern Sprachwandel wird durch Prozesse des Sprachhandelns erklärbar. Die sogenannte linguistische Pragmatik als Lehre vom sprachlichen Handeln konnte sich erst im Zuge des linguistic turn entwickeln – sie kann uns heute wertvolle Hinweise darauf liefern, warum unser Sprachsystem so ist, wie es ist. Diese sprachpragmatische Arbeitsweise übernahmen zahlreiche Vertreter der linguistischen Fachgebiete, die Auswirkungen betrafen aber darüber hinaus auch die meisten anderen Geistes- und Sozialwissenschaften.

      Die dritte Entwicklung, die für die heutige SprachauffassungSprachauffassung von Bedeutung ist, bezeichnet man häufig als die Etablierung der sogenannten Bindestrich-Linguistiken in der Folge des linguistic turn. Gemeint ist damit die Annäherung der Sprachwissenschaft an angrenzende Disziplinen und die Öffnung für Methoden aus anderen Wissenschaftsbereichen. So gibt es heute eine Vielzahl an sehr spezialisierten Teildisziplinen innerhalb der sprachwissenschaftlichen Forschung, wie etwa die SoziolinguistikLinguistikSozio-, die Psycholinguistik, die Neurolinguistik oder die Textlinguistik. All diese Disziplinen kennzeichnen neue Dimensionen von Sprachbetrachtungsebenen, die konsequent von Theorien und Methoden ausgehen, die außerhalb der Sprachwissenschaft entstanden sind oder deren Techniken und Methoden größtenteils auf Nachbardisziplinen Bezug nehmen (vgl. WILDGEN 2010: 160).

      Diese Bezugnahme auf andere Forschungsfelder und auf deren Methoden ist auch für die Sprachwandelforschung von Bedeutung. So geht ZEIGE davon aus, dass beispielsweise „die Erkenntnisse der psycholinguistischen Forschung das Verstehen von Verarbeitungsmechanismen und der mental-kognitiven Seiten von Sprache“ (ZEIGE 2011: XIX) erweitern können. Auch die SoziolinguistikLinguistikSozio- in der Tradition WILLIAM LABOVs kann Beiträge zu einem besseren Verständnis aus der Perspektive einer sozialen Strukturanalyse leisten, indem durch empirische Sozialforschung heute untersucht wird, wie Sprecher bestimmter sozialer Gruppen zu einer Veränderung des Sprachsystems beitragen. Gegenwärtige Untersuchungen zum sogenannten KiezdeutschKiezdeutsch oder zur Jugendsprache und damit verbunden Analysen zur Verbreitung und zur Wirkung dieser sozialen Varietäten auf das System der GemeinspracheGemeinsprache sind beispielsweise sehr aufschlussreich.

      Was diese drei Phasen in der jüngeren Geschichte der Sprachwissenschaft so besonders macht, ist eine Hinwendung zur sprachlichen WirklichkeitWirklichkeitsprachliche und zu den Mechanismen sprachlichen Handelns. Wesentlich für die moderne Linguistik ist, dass der sprechende Mensch und die sprachlichen Funktionen in der Gesellschaft das Wesen der Sprache ausmachen. Seit dem Entstehen der modernen linguistischen Pragmatik wird der Tatsache, dass eine adäquate Sprachtheorie, die weder verkürzt noch hypostasiert, nur als sozialwissenschaftliche Theorie denkbar ist, in der Sprachwissenschaft sowie in den angrenzenden Wissenschaftsdisziplinen verstärkt Rechnung getragen.

      Wir können also über das Wesen der Sprache im Allgemeinen mit einem ersten Blick auf deren Veränderungen und den damit verbundenen Prinzipien festhalten:

      [bad img format]Die Bestimmung der sprachlichen Struktur (= Sprache) sowie des sprachlichen Strukturwandels (= Sprachwandel) sind untrennbar verbunden mit den HandlungsmaximenMaximeHandlungs- und Handlungsroutinen der Sprecher in einer Sprachgemeinschaft. Diese Handlungsmaximen sind immer zweckgerichtet.

      Die historische Sprachwissenschaft, die versucht, Sprachwandel zu erklären, ist von der beschriebenen Vielfalt der Betrachtungsmöglichkeiten nicht unbeeinflusst. Wenn man das Wesen des Wandels aus dem Wesen der Sprache ableiten möchte, muss man zunächst festlegen, welche SprachauffassungSprachauffassung man vertritt. Dabei gilt:

      [bad img format]Je nachdem, welcher sprachwissenschaftlichen Schule man angehört, ist Sprache entweder ein natürliches, ein strukturalistisches, ein technisch-funktionales oder ein handlungstheoretisches Phänomen.

      Wie jede andere Wissenschaft auch findet die Sprachwissenschaft ihren Gegenstandsbereich nicht einfach vor, sondern sie konstituiert ihn selbst. Diese Konstituierung

Скачать книгу