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über den Fall Lichtwerk zwar betroffen, zeigte sich jedoch bar jeden Mitgefühls. Die Presse reagierte ähnlich. In dem Frankfurter Journal, dem Frankfurter Konversationsblatt und der Frankfurter Kaiserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung wurde einzig Lichtwerks Bluttat verurteilt; dass es sich dabei um einen Akt purer Verzweiflung gehandelt hatte, hingegen mit keinem Wort gewürdigt. Sidonie war darüber so aufgebracht, dass sie einen Leserbrief an die Frankfurter Zeitungen schrieb, der jedoch unveröffentlicht blieb. In den darauffolgenden Wochen war das Fräulein sehr niedergeschlagen. Sie machte sich wegen der Lichtwerks schlimme Vorwürfe und hatte mehr und mehr das Gefühl, bei ihrem Kampf gegen die Armut auf der Stelle zu treten.

      Kurz nachdem die Rathausuhr die zwölfte Stunde angeschlagen hatte, klopfte es sachte an der Tür von Sidonies Arbeitszimmer und Mathilde, des Fräuleins Aufwartefrau, trat ins Zimmer.

      »Ich wollt Sie nicht stören, aber ich war grad noch mal unten in der Küch gewesen, und da hab ich gesehen, dass Sie noch Licht anhaben. Ei, Fräuleinsche, Sie müssen doch morgen früh raus. Gehn Se doch bald mal schlafen. Oder soll ich Ihnen grad noch was zu essen bringen?«, erkundigte sich die alte Frau fürsorglich, die angesichts der fragilen Statur des Fräuleins immerzu um deren leibliches Wohl besorgt war.

      »Nein, nein, Tante Tilla. Ich hab wirklich keinen Hunger. Ich wollt auch bald ins Bett gehen. Komm, setz dich noch ein bisschen her, dann trinken wir zusammen ein Glas Wein, und du knetest mir ein bisschen den Nacken. Der tut mir von der Schreiberei nämlich wieder weh.« Sidonie streckte sich, gähnte ausgiebig, holte ein weiteres Glas vom Wandbord und schenkte nach. Mathilde Janz war Sidonies einzige Bedienstete. Seit nunmehr 30 Jahren war sie bei dem Fräulein in Stellung, und die Frauen kamen gut miteinander aus. Zuweilen kabbelten sie sich auch, wobei es meistens ums Essen ging. Denn die füllige Mathilde, die eine ausgezeichnete Köchin war, konnte es einfach nicht mit ansehen, dass das ohnehin so zerbrechlich wirkende Fräulein einen eher mäßigen Appetit hatte. Bei solchen, aber auch bei anderen, ähnlichen Anlässen, warfen sich die Frauen gerne vor, für wie starrsinnig und uneinsichtig sie einander hielten. Das Fräulein pflegte Mathilde dann als ›unverbesserliche Rechthaberin‹ zu betiteln, während diese Sidonie einen ›alten Dickkopf‹ nannte. In solchen Momenten glichen die beiden einem alten Ehepaar. Sidonie konnte mit der einfachen Frau über alles sprechen. Tante Tilla, wie die resolute, aber gutmütige Mathilde von allen im Quartier genannt wurde, war oft die Erste, der Sidonie Passagen ihrer Werke vorlas. Sie gab viel auf Mathildes Urteil. Nach Sidonies Dafürhalten besaß die alte, ungebildete Magd eine natürliche Intelligenz und ein untrügliches Gespür für schlüssige Zusammenhänge. Tante Tilla, ähnlich wie ihre Herrschaft, sagte gerne unumwunden ihre Meinung und sparte meist auch nicht mit Kritik, was Sidonie sehr an ihr schätzte. Beide waren unverheiratet und hatten keine Familie.

      »Ob Sie da morgen viel erreichen, bei dem komischen Inspektor, da hab ich so meine Zweifel«, äußerte sich Mathilde mürrisch, nachdem sich die Frauen zugeprostet hatten. »Des ist auch kein richtiger Frankfurter. Der ist, glaub ich, erst seit einem Jahr hier. Soll ein Sauschwab sein, hab ich gehört.«

      »Das ist mir ganz egal, wo der herkommt. Von mir aus kann der auch ein Rheinländer oder Sachse sein – solang’s kein Offenbächer ist. Aber Spaß beiseite: Hauptsache, der versteht sein Handwerk und läuft nicht mit Scheuklappen herum wie dieser Zeitungsfritze vom Frankfurter Konversationsblatt. Es ist doch nicht zu glauben, was der für einen Mist fabriziert hat«, ereiferte sich das Fräulein. »Genau wie damals, als man die Lichtwerks tot in ihrer Wohnung gefunden hat. Und jetzt haben wir in Frankfurt wieder einen tragischen Todesfall, und die Journaille hat abermals nichts Besseres zu tun, als das Opfer durch den Dreck zu ziehen und den Kopf in den Sand zu stecken. Gott, ich könnt mich grad wieder grün ärgern! Was weiß denn schon so ein feister Zeitungsschreiber von der Not der ledigen Mütter?«

      »Dem sei Frau muss bestimmt net zum Engelmacher rennen, wenn sie in anderen Umständen ist!«, entrüstete sich auch Mathilde.

      »Und das ist ja noch längst nicht das Schlimmste. Aus Angst vor der Schande ersticken manche unverheirateten Frauen sogar ihre Neugeborenen. Nicht selten kommt es vor, dass ihnen ihre Mütter dabei behilflich sind, damit nur ja keiner was merkt und der Ruf der Familie nicht ruiniert wird«, setzte Sidonie hinzu. »Oft sind es die Tapfersten, die ihre Kinder austragen und allein großziehen. Vor denen kann man nur den Hut ziehen, wo es ihnen doch von allen Seiten noch viel schwerer gemacht wird, als es den armen Leuten ohnehin geht. Und dann lässt dieser Schmierfink kein gutes Haar an dem armen Ding. Na ja, wie man es in Frankfurt hinlänglich kennt: Gegen die Blasiertheit und Ignoranz der Philister ist wohl kein Kraut gewachsen. Kein Wunder, dass so gute Leute wie der Börne und der Heine Frankfurt den Rücken gekehrt haben. Ich weiß noch, wie der Heinrich immer gesagt hat: Frankfurt ist mir verhasst. Die dortige Philisterei fürchte ich mehr als die Cholera«, zitierte Sidonie grimmig.

      »Was heißt hier Cholera! Von meinem Quetschekuche konnt der doch nie genug kriegen«, erwiderte Mathilde trocken. Sidonie musste lachen.

      »Ach, Tante Tilla, du kannst immer nur ans Essen denken!«

      Wohlig vergraben in ihr Federbett, nahm sich das Fräulein für den morgigen Tag vor, jeglicher Schwerfälligkeit des Amtsschimmels entschlossen Paroli zu bieten.

      4

      Als Sidonie am Freitagmorgen mit Rudi durch die Töngesgasse in Richtung Liebfrauenberg ging, goss es in Strömen. Sidonie trug einen haubenartigen, rosafarbenen Filzhut, an dessen Seiten rötliche Korkenzieherlocken hervorquollen, und ein grau gestreiftes, leicht zerknittertes Musselinkleid. Der braune Kaschmirschal, den sie sich um die Schultern gelegt hatte, war schon recht aufgeweicht und hatte bald die Konsistenz eines nassen Putzlappens angenommen. Sidonie, die nicht viel größer war als der zwölfjährige Rudi, hatte den Jungen untergehakt und versuchte mit dem zierlichen, geblümten Schirm vergeblich, die Regengüsse abzuhalten. Rudis zuvor von Tante Tilla so sorgfältig gestrählter Haarschopf war durchnässt und so zerzaust wie ehedem. Nachdem sie in die Katharinenpforte eingebogen waren, erreichten sie endlich die Hauptwache. Sidonie glättete noch einmal Rudis widerspenstiges Haar, spannte den Regenschirm zusammen und öffnete entschlossen das Portal.

      »Guten Morgen, wir hätten gerne den mit dem Fall Gerlinde Dietz betrauten Inspektor gesprochen«, erklärte Sidonie dem in der Wachstube sitzenden Gendarm.

      »Der Herr Oberinspektor ist noch nicht da. Der kommt meistens erst gegen neun«, antwortete der Beamte.

      »Gut, dann warten wir so lange«, erwiderte das Fräulein entschieden.

      Der Wachmann wies mit einer knappen Geste auf eine lange Holzbank an der Stubenseite. Das ungleiche Paar nahm Platz und wartete schweigend auf die Ankunft des Beamten. Nach gut einer Stunde traf Oberinspektor Brand ein. Als ihm der diensthabende Gendarm erklärte, er werde erwartet, und dabei auf Sidonie und den Jungen deutete, verzog Brand, der die Besucher flüchtig taxiert hatte, ungehalten das Gesicht und bedeutete ihnen, sie sollten sich noch ein wenig gedulden, er werde sie zu gegebener Zeit rufen lassen.

      Die Rathausuhr auf dem Römerberg schlug gerade zur zehnten Stunde, als Brand die Wartenden endlich in sein Büro bat. Die kleine Amtsstube war voller Rauchschwaden, und auf dem Schreibtisch lagen noch die Überreste einer Brotzeit. Sidonie, die daraus schloss, dass der Inspektor gefrühstückt und geruhsam sein Pfeifchen geschmaucht hatte, hüstelte demonstrativ und warf Brand einen indignierten Blick zu, doch dieser machte keinerlei Anstalten, das Fenster zu öffnen, um zu lüften.

      »Was liegt an?«, erkundigte er sich stattdessen in schroffem Tonfall.

      »Wir sind gekommen, um in dem Fall Gerlinde Dietz eine Zeugenaussage zu Protokoll zu geben«, entgegnete das Fräulein förmlich.

      Nachdem Brand Sidonie und Rudi noch einmal mit abschätziger Miene in Augenschein genommen hatte, bemerkte er barsch, er wolle nur darauf hinweisen, dass in dem Fall Dietz keine Belohnung ausgesetzt sei.

      »Davon sind wir auch nicht ausgegangen«, beschied ihn Sidonie kühl. »Uns geht es, wie der Polizeibehörde hoffentlich auch, einzig um die Wahrheitsfindung. Der Junge kann möglicherweise eine Täterbeschreibung abgeben.«

      Der Inspektor beorderte den diensthabenden Beamten mit Papier und Feder

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