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Susette war Sidonie mit ihren roten Haaren, den vielen Sommersprossen und dem leichten Silberblick nicht gerade eine Schönheit. Während sich im Hause Koch die jungen Kavaliere um Susette förmlich zu drängen begannen, schätzte man die unscheinbare Sidonie wegen ihrer Gutartigkeit höchstens als liebe Freundin. Schon früh hatte sie sich, ohne je darüber zu murren, mit ihrer Rolle als Mauerblümchen abgefunden. Während andere junge Damen von nichts anderem als von Bällen und Gesellschaften sprachen, interessierte sich Sidonie nur für Bücher, was dazu führte, dass sie bereits in jungen Jahren außerordentlich gebildet war – weitaus gebildeter, als man es einer Dame der Gesellschaft zubilligte. Sie begann, Geschichten und Gedichte zu schreiben, und versäumte kaum einen Literarischen Zirkel, der in den großbürgerlichen Salons Frankfurts abgehalten wurde. Ihre ganze Liebe und Verehrung galt der Literatur, und sie hatte das große Glück, zahlreichen namhaften Dichtern und Gelehrten persönlich zu begegnen.

      Als Susette schließlich den Frankfurter Bankier, Jakob Gontard, heiratete, holte sie Sidonie als ihre engste Vertraute zu sich in die Villa Gontard, um in dem riesigen, kalten Mausoleum, wie sie es zu nennen pflegte, nicht so allein zu sein, denn ihr Gatte verbrachte weitaus mehr Zeit in seinem Bankhaus als mit seiner jungen Gemahlin. Sidonie, die Susette förmlich vergötterte, stellte ihre eigene Existenz wie selbstverständlich in den Dienst der schönen Cousine. Sie stand ihr während ihrer Schwangerschaften bei und wurde der keineswegs glücklich verheirateten Susette zur Seelentrösterin. Im Jahre 1796 stellte Jakob Gontard für seine Söhne den jungen Friedrich Hölderlin als Hauslehrer ein. Schon bald verliebte sich der Dichter in Susette, die ihrerseits, mit ihrer Ehe unzufrieden, Hölderlins Zuneigung erwiderte und eine heimliche Liaison mit ihm einging. Die beiden Verliebten bemerkten nicht, dass Sidonie, Susettes guter Geist, auf ihre stille, verhaltene Art ebenfalls in den jungen Dichter verliebt war. Diese Liebe blieb für Sidonie ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Einzig ihrer Feder öffnete sie ihr Herz und ließ ihren Gefühlen so freien Lauf.

      Als Gontard im Jahre 1800 schließlich von der Liebe seiner Frau zu dem Hauslehrer erfuhr, musste Hölderlin das Haus der Bankiersfamilie verlassen. 1802 starb Susette, die sich bei einem ihrer Söhne angesteckt hatte, an Röteln. Sidonie, die sich mit dem Hausherrn nie besonders gut verstanden hatte, zog daraufhin aus und siedelte in ihr Elternhaus in der Töngesgasse über, das in der Frankfurter Altstadt gelegen war. Zu diesem Zeitpunkt war sie längst im heiratsfähigen Alter, und ihr bleiches, sommersprossiges Gesicht mit den meergrünen Augen entbehrte nicht einer gewissen Anmut. So fand sich auch ein junger Verehrer, der die Schönheit von Sidonies Seele erkannte und sich in das zarte Geschöpf verliebte. Doch Sidonie, die ihr Herz unwiederbringlich an Hölderlin verloren hatte, lehnte den Antrag ab. Sie blieb unverheiratet, und inzwischen war sie zwar ein spätes Mädchen, mitnichten aber eine verbitterte, alte Jungfer. Neben der Schriftstellerei widmete sie sich der Armenfürsorge. Verwendete sie anfangs noch ihre eigenen, bescheidenen Mittel, den armen, kinderreichen Familien in der Nachbarschaft mit Milch, Lebensmitteln und Kleidern auszuhelfen, so war sie mittlerweile dazu übergegangen, wohlhabende Bürger für ihre mildtätigen Zwecke zu gewinnen.

      Sidonie, die in Frankfurt allgemein nur ›das Fräulein‹ genannt wurde, war wie alle Ledigen und Alleinstehenden eine Außenseiterin in einer Gesellschaft, die das Familienideal über alles stellte. In den großbürgerlichen Salons bewunderte und schätzte man die Schreibkunst der Dichterin, empfand die freigeistige Intellektuelle indessen als suspekt. Nicht nur deshalb, weil sie bei gesellschaftlichen Anlässen mehr als schlicht, mitunter sogar nachlässig gekleidet war, war auch die Konversation mit ihr keineswegs so, wie man das in gehobenen Kreisen für angemessen erachtete. Sidonie Weiß galt als eigensinnig. Mit ihrer Meinung hielt sie nicht hinterm Berg und war weit davon entfernt, sich lieb Kind machen zu wollen. Ihre gelebte Devise, dem Gassenkehrer mit der gleichen Höflichkeit zu begegnen wie dem Bürgermeister, sorgte beim Frankfurter Großbürgertum, das gerne auch mit der hochdotierten Bundestagsdiplomatie aus dem Palais Thurn und Taxis gesellschaftlichen Umgang pflegte, für Unbehagen. Wollte man doch im Dunstkreis eines Fürsten von Metternich nicht etwa den Eindruck erwecken, man trage sich mit liberalem Gedankengut. Unverfänglicher dagegen waren für die tonangebende Oberschicht die Wohltätigkeitsaktivitäten des Fräuleins. In einer Stadt, der man nachsagte, dass nur das Geld den Lebensinhalt bestimme, war den Angehörigen des Geldadels durchaus daran gelegen, Bürgersinn zu beweisen, und zu allen Zeiten hatte man in Frankfurt eifrig gesammelt und gespendet, um Kultur und Wissenschaft zu fördern und die ärgste Not der armen Leute zu lindern – solange man das blanke Elend nicht vor der eigenen Haustür hatte. Sidonie hingegen, die mitten in der Frankfurter Altstadt lebte, war umgeben von armen, kinderreichen Familien. Und obgleich sie auch hier aufgrund ihres privilegierten Standes nicht richtig dazugehörte, war sie doch alles andere als ein distanzierter Zaungast.

      Wirklich wohl fühlte sich Sidonie nur an ihrem Schreibtisch, was ihr jedoch nicht den Blick auf die Wirklichkeit trübte. Sie kannte die Elendsquartiere der Altstadt, in deren drangvoller Enge die Menschen zusammengepfercht waren wie Tiere im Stall. Und wenn es nicht die Schwindsucht war, die die Menschen hinwegraffte, war es der Branntwein. Um der ungesunden Beengtheit der Behausungen zu entkommen, verbrachten die Kinder oftmals den größten Teil des Tages auf der Straße. Die meisten Gassenkinder waren genau wie ihre Mütter gezwungen, mit dazuzuverdienen, denn der Lohn des Vaters reichte kaum für das Nötigste. Arbeiteten die Mütter stundenweise als Zugehefrauen oder Wäscherinnen in den Häusern der Höhergestellten, so fegten die Kinder Höfe, erledigten Botengänge und Besorgungen, trugen Lasten oder verkauften Backwaren auf öffentlichen Plätzen und Anlagen an Flaneure. Sidonie wusste, dass viele der Kinder Hunger litten, denn obgleich in den ärmlichen Haushalten sparsam gewirtschaftet wurde und alle anfallenden Nahrungsreste bis zum Äußersten verwässert und gestreckt wurden, reichten die kargen Mittel kaum aus, die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen. Das Fräulein versuchte seit vielen Jahren, den Armen zu helfen, indem sie mehrere Suppenküchen in der Altstadt ins Leben gerufen hatte, wo arme Leute jeglichen Alters die Möglichkeit haben sollten, sich kostenlos satt zu essen. Außerdem erhielten die Kinder bedürftiger Familien in ihrem Haus in der Töngesgasse täglich einen Becher frische Milch. Da dies sehr gut angenommen wurde und dazu beitrug, den Mangelerkrankungen der Heranwachsenden ein wenig vorzubeugen, trug sich Sidonie inzwischen mit dem Gedanken, das Erreichte auszuweiten. Sie plante, in sämtlichen Regionen Frankfurts, dort wo die Not am größten war, kleine Milchbuden errichten zu lassen. Weil ihr indessen die Mittel zur Umsetzung noch fehlten, hatte sie vor, demnächst in den Kreisen der Wohlhabenden dafür zu sammeln.

      Die Menschen im Quartier begegneten dem Fräulein mit großem Respekt und wussten ihre Hilfe sehr zu schätzen. Dennoch hatte Sidonie häufig das Gefühl, mit ihrer Mildtätigkeit lediglich ›den berühmten Tropfen auf den heißen Stein‹ fallen zu lassen. Ein schreckliches Ereignis, das inzwischen zwei Monate zurücklag, trug dazu bei, dies noch zu verstärken: Am Morgen des 21. Juni 1836 entschloss sich Sidonie, die Gendarmerie zu verständigen, nachdem die kleine Tochter von Schneidermeister Lichtwerk mehrere Tage nicht mehr bei ihr gewesen war, und auch die Nachbarn der Lichtwerks aus der Kornblumgasse bestätigt hatten, die Familie schon tagelang nicht gesehen zu haben. Zuvor hatte das Fräulein noch die Wohnung der Schneiderfamilie aufgesucht, und als auf ihr Rufen und Klopfen keiner reagierte, war sie zur Hauptwache geeilt. Nachdem den Polizisten ebenfalls nicht geöffnet wurde, brachen diese die Wohnungstür auf und machten einen grausigen Fund: Der Schneidermeister, Joachim Christian Lichtwerk, lag mit durchgeschnittener Kehle in einer Lache getrockneten Blutes. Ebenso seine Frau Anna Christina sowie seine Töchter Anna Sophie Gertrude und Anna Christina von drei und anderthalb Jahren. Lichtwerk hielt noch ein blutiges Rasiermesser in der Hand. Er hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorging, dass er seine Angehörigen und danach sich selbst mit Vorbedacht und dem Einverständnis seiner Frau getötet hatte. Mit der Ermordung der hochschwangeren Ehefrau hatte er auch die Tötung der fast ausgetragenen Leibesfrucht verursacht. Das Kind war nicht mehr zu retten. Hauptursache der Tat war seinen Angaben nach existenzielle Not. Das Geschäft des Schneidermeisters war vom Niedergang bedroht. In seinem hinterlassenen Brief beklagte Lichtwerk, dass er seit vier Monaten die Miete nicht mehr hatte aufbringen können. Kein Kunde habe seine Schneiderrechnungen bezahlt, er sei von allen Seiten geprellt worden. So hatte er einen Tuchhändler betrogen, der ihn dann angezeigt hatte. Die Verurteilung stand unmittelbar bevor, als der erst 34-jährige Lichtwerk zu seiner Verzweiflungstat schritt.

      Der tote

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