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Madame empfängt. Ursula Neeb
Читать онлайн.Название Madame empfängt
Год выпуска 0
isbn 9783839234723
Автор произведения Ursula Neeb
Издательство Автор
Immer wieder stammelte sie, sie könne nicht mehr richtig sehen, alles komme in großen Wellen auf sie zu und drohe sie zu verschlingen, alles werde immer schwärzer und von den Bäumen tropfe Blut, was sie erneut verzweifelt aufschreien ließ. Während der besorgte Ehemann, der einen derartigen Ausbruch bei seiner stets so beherrschten Gemahlin noch niemals erlebt hatte, einen der Diener damit beauftragte, schleunigst den Hausarzt herbeizuholen, versuchten die anderen Helfer, die inzwischen in konvulsivischen Zuckungen sich windende Frau ruhig zu halten. Nachdem diese immer wieder in schlimmster Todesangst um ihr Laudanum gebettelt hatte und eine Bedienstete mit dem Fläschchen in den Händen vom Haus herbeigeeilt war, versuchte einer der Helfer, der Krampfenden behutsam einige Tropfen davon einzuflößen, doch ehe er dazu kam, entriss ihm die Tobende die Phiole, führte sie sich selbst mit bebenden Händen an den Mund und trank sie fast zur Hälfte leer. Doch schien ihr das Opiat keine Beruhigung zu verschaffen, im Gegenteil, ihre Krämpfe und Zuckungen wurden immer heftiger, und sie verfiel in ein wahnsinniges Wimmern. Erst, als endlich der Arzt eintraf und der Dame eine hoch dosierte Bromlösung injizierte, beruhigte sie sich allmählich. Die Krämpfe und ihre entsetzlichen Schreie ließen nach und wurden von einer für die Kranke wie für alle Anwesenden wohltuenden Bewusstlosigkeit abgelöst. Sie wurde in ihr Schlafgemach gebracht und aufs Bett gelegt. Dort untersuchte sie der Arzt noch einmal genauer, fühlte den Puls, hob ihre Lider an und leuchtete immer wieder in die Augen. Die Pupillen waren so geweitet, dass sie nahezu die ganze Iris mit ihrer Schwärze bedeckten, und zogen sich trotz des Lichtstrahls nicht zusammen. Nachdem der Doktor dem Ehemann noch einige Fragen zu dem Anfall seiner Frau gestellt hatte, schüttelte er besorgt und gleichermaßen irritiert den Kopf und kam auf das wiederholte Drängen des Hausherrn nicht umhin, eine schwere Belladonna-Vergiftung2 zu diagnostizieren.
1
Frankfurt am Main, vier Jahre später:
Am Samstagnachmittag des 25. August 1836 verließ das Dienstmädchen, Gerlinde Dietz, gegen halb eins ihre Kammer im Dachgeschoss der Villa Saltzwedel am Schaumainkai 15 des Sachsenhäuser Mainufers und stieg, beladen mit einem schweren Korb und einem großen Paket, die Dienstbotentreppe hinunter bis zum Erdgeschoss. Vor der Flügeltür des großen Salons, wo ihre Herrschaft nach dem Mittagessen gerade den Kaffee nahm, machte sie Halt, stellte ihr Gepäck ab und klopfte an. Als sie aufgefordert wurde, einzutreten, öffnete die junge Frau die Tür, knickste artig vor dem Apotheker, Ottmar Saltzwedel, und seiner Gattin Pauline, der sie als Kammerzofe diente, und verabschiedete sich. Nachdem sie sich noch einmal in aller Ergebenheit für den freien Nachmittag bedankt hatte, versprach sie, pünktlich um halb sieben wieder zurück zu sein. Es war ein heißer Sommertag, und die zierliche, dunkelhaarige Frau eilte am Mainufer entlang in Richtung Offenbach, um ihre beiden Söhne zu besuchen, die sie dort zu einer Tante in Pflege geben musste, weil sie sonst ihre Stellung nicht hätte antreten können. Sie freute sich so sehr auf die Kinder, dass ihr Herz vor Sehnsucht schier bersten wollte. Für Gerlinde war es ein Kreuz, dass sie die beiden so selten sehen konnte, und sie merkte, wie ihr vor Traurigkeit darüber die Tränen kamen. Doch sie vertrieb ihre Wehmut und schritt stattdessen noch rascher aus. Der Korb war voller Lebensmittel, die sich die junge Frau vom Munde abgespart hatte, denn die Dienstbotenkost im Hause Saltzwedel war recht kärglich. In dem Karton befanden sich Geschenke: ein Holzpferdchen auf Rädern an einer Schnur für den dreijährigen Anton, ein Steckenpferd für den fünfjährigen Robert und ein Stück Lavendelseife für die Tante. Gerlinde selbst zählte gerade einmal 20 Jahre. Sie war eine hübsche Frau mit dunkelbraunen Locken, großen samtigen Augen und einem frischen, hellen Teint. Wie immer an ihren freien Nachmittagen hatte sie sich auch heute fein herausgeputzt und trug ein fesches, geblümtes Sommerkleid mit Bändern und Rüschen und einen fliederfarbenen Strohhut mit einem hübschen Veilchenbukett.
In ihrem jungen Leben waren ihr schon zahlreiche Widrigkeiten begegnet, allen voran die Verachtung, die ihr als lediger Mutter immerzu entgegenschlug.
Gerlinde entstammte einer rechtschaffenen Frankfurter Handwerkerfamilie. Ihren Eltern, einfachen und frommen Leuten, war das Ansehen in der Nachbarschaft heilig. So heilig, dass sie ihre hochschwangere Tochter verstießen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Kindsvater, ein junger Maurergeselle und Luftikus, das Weite gesucht und Gerlinde im Stich gelassen hatte. Gerlinde hatte große Schande über die Familie gebracht und verhielt sich auch sonst verstockt und uneinsichtig. Sie weigerte sich, die Empfehlung ihrer Mutter und anderer wohlmeinender Verwandter zu beherzigen, eine Engelmacherin aufzusuchen, und war auch nicht bereit, ihren Säugling nach der Geburt freizugeben und der städtischen Fürsorge zu überlassen. Einzig ihre Tante Emilie Dietz, eine alleinstehende Schneiderin aus Offenbach, kümmerte sich um ihre Nichte und nahm die ledige Mutter mit ihrem Kleinkind bei sich auf. Mehr schlecht als recht schlugen sich die beiden Frauen durch, zumal Gerlindes Eltern, die mit ihrem Enkel, dem entehrenden Sprössling, nichts zu tun haben wollten, der gefallenen Tochter keinerlei Unterstützung zukommen ließen. So kam es der jungen Mutter sehr gelegen, als sie schließlich einen gestandenen Mann kennenlernte, der es ehrlich mit ihr zu meinen schien, und bereit war, sie trotz des unehelichen Kindes zu heiraten. Deswegen mochte sie sich dem jungen Soldaten auch nicht bis nach der Hochzeit versagen und gab seinem Drängen nach. Kurze Zeit später, Robert war gerade zwei Jahre alt, war Gerlinde wieder schwanger und ihr Heiratskandidat über alle Berge. Genau wie bei ihrem ersten Kind obsiegte bei der jungen Frau trotz aller Verzweiflung und Not auch dieses Mal die Mutterliebe, und sie entschloss sich, das Kind auszutragen und großzuziehen. Als Gerlinde nicht mehr ein und aus wusste, ersuchte sie die öffentliche Wohlfahrt der Stadt Offenbach um Hilfe. Auch hier stieß sie auf Verachtung und Vorwürfe. Das hätte sie sich früher überlegen sollen, was sie sich und ihren armen Kindern durch ihren Frevel zufügen würde, musste sie sich von dem selbstgerechten Beamten sagen lassen. Und wenn sie es nicht schaffe, dann müsse sie halt ihre Kinder in ein Waisenhaus geben, beschied der Amtmann barsch. Als die junge Frau daraufhin entsetzt ausrief, niemals werde sie ihre Kinder weggeben, musste die tapfere junge Mutter dem verknöcherten Bürovorsteher doch einen gewissen Respekt abgenötigt haben, denn er bewilligte ihr immerhin eine kleine Beihilfe, die den Aufwendungen einer Amme im Fürsorgeheim entsprach. Gerlinde war überglücklich über diese Zuwendung, musste aber bald feststellen, dass das Geld dennoch nicht ausreichte. Sie wusch und putzte in den besseren Häusern der Nachbarschaft und war sich für keine Arbeit zu schade, denn ihren Söhnen sollte es an nichts fehlen.
Ohnehin hatten es die Kleinen nicht leicht. Als uneheliche Kinder waren sie, genau wie ihre Mutter, mit einem unauslöschlichen Makel behaftet, und man pflegte sie in der Nachbarschaft mehr oder weniger direkt als Bankerte und Bastarde zu bezeichnen. Gerlinde blutete das Herz, wenn den Buben so etwas widerfuhr, und sie litt dann immer unter bohrenden Schuldgefühlen, die sie durch besondere Fürsorglichkeit zu lindern suchte. Glücklicherweise hatte sie inzwischen eine gute Stellung in Frankfurt und konnte wenigstens einen Großteil der Unterhaltskosten für die Kleinen bestreiten. Um den Rest aufzubringen und den Buben auch mal ein kleines Geschenk machen zu können, ging sie zudem seit einiger Zeit einem Nebenerwerb nach, von dem allerdings niemand etwas wissen durfte.
Als sie vor gut einem Jahr ihre Stellung in Frankfurt angetreten hatte, lernte Gerlinde auf dem Roßmarkt die Blumenverkäuferin Cornelia Brendel kennen, die dort einen kleinen Verkaufsstand betrieb. Die gleichaltrige junge Frau verhielt sich Gerlinde gegenüber sehr freundlich, war stets guter Dinge und immer zu einem Plausch aufgelegt. Gerlinde, die sich in Frankfurt recht einsam fühlte und ihre beiden Jungen sehr vermisste, war froh über etwas Ansprache, und so spielte es sich bald ein, dass Gerlinde, wenn sie in der Frankfurter Innenstadt Einkäufe zu erledigen hatte, die Blumenverkäuferin an ihrem Stand besuchte, und oft schenkte ihr Nelly, wie sie von allen genannt wurde, ein hübsches Blumensträußchen oder ein Stück selbstgebackenen Kuchen. Gerlinde fand bald Zutrauen zu der aufgeschlossenen Frau, erzählte von ihren Buben, von ihrem schweren Stand als ledige Mutter, die ganz