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aussagten, dass die Tote weder jemals Selbsttötungsgedanken geäußert habe, noch in ihren Lebensumständen ein plausibler Grund für eine solche Tat vorhanden sei, musste im Fall der jungen Frau von einem Mord ausgegangen werden. Bezüglich Täter und Motiv tappte die Polizei im Dunkeln. Von dem liederlichen Nebenerwerb der jungen Frau, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit neben ihrer Tätigkeit als Dienerin als Prostituierte betätigte, wussten weder ihre Herrschaften noch ihre Tante und zeigten sich darüber sehr betroffen.

      In den Augen Inspektor Brands gewann der Fall dennoch an Klarheit: Gerlinde Dietz war Mutter von zwei unehelichen Kindern und führte zudem noch einen höchst unsoliden Lebenswandel, indem sie neben ihrer Tätigkeit als Dienstmagd der Prostitution nachging. In einem solchen Milieu seien ja Mord und Totschlag an der Tagesordnung, erklärte der Inspektor der Journaille gegenüber. Man müsse hier vermutlich von Mord aus niederen Beweggründen wie etwa Eifersucht oder Neid ausgehen.

      Im Frankfurter Konversationsblatt war zu lesen, dass es sich bei dem ermordeten Dienstmädchen, Gerlinde Dietz, um die gestrauchelte Tochter anständiger Frankfurter Bürger gehandelt habe, die nichts unversucht gelassen hätten, die Widerspenstige wieder auf den rechten Weg zu führen. Doch leider hätten sie dafür nur Undank geerntet. Die braven Leute wären über das schlimme Ende von Gerlinde untröstlich, obgleich sie, nach den Bekundungen der Mutter, so etwas schon immer hätten kommen sehen. Gerlinde Dietz war, wie der renommierte Zeitungsschreiber Schirrmann dank sorgfältiger Recherche und Befragung im Umfeld der Toten herausfand, eine leichtlebige, verantwortungslose Person, der einzig die Ausschweifung etwas bedeutet hatte. Um ihrem Lotterleben ungezügelter frönen zu können, hatte sie ihre beiden Kinder zu einer alten Tante abgeschoben und sich kaum mehr um die armen Würmchen gekümmert. Gottlob war die Städtische Fürsorge durch den schrecklichen Vorfall auf das Elend der Kinder aufmerksam geworden und hatte sie in ein Waisenhaus eingewiesen.

      Inspektor Brand, der den Mörder im Prostituierten-Milieu vermutete, ließ in den folgenden Wochen verstärkt Razzien in den Bezirken der Straßenprostitution vornehmen, die bekanntlich auch von Gelegenheitsprostituierten aufgesucht wurden. Mehrere Huren, überwiegend heruntergekommene Straßendirnen, wurden in Arrest genommen und verhört. Keine von ihnen war jedoch auch nur annähernd in der Lage, stichhaltige Hinweise zur Aufklärung des Giftmordes zu liefern. Alle Frauen erklärten übereinstimmend, die Ermordete weder persönlich gekannt noch jemals in den Gegenden des Straßenstrichs gesehen zu haben.

      Als sich in der folgenden Zeit ein Großteil des Frankfurter Gendarmerie-Korps und der freiwilligen Bürgerwehr zu nachtschlafender Zeit in den stillen Winkeln des Rossmarkts und der Mainzergasse herumdrückte, sich am Leonhards Tor und an der Rückseite des Römer-Rathauses gegenseitig auf die Füße trat, und die versteckten Winkel der Wall-Anlagen ebenso durchstreifte wie das gesamte Klapperfeld, blieben die Huren und ihre Kundschaft allmählich weg. Die Gassendirnen verfluchten die Allgegenwart der Ordnungshüter, die ihnen das Geschäft ruinierten, und waren schon dabei, sich neue Schlupfwinkel auszusuchen, als die für sie so lästigen Streifzüge endlich ein Ende fanden.

      Schließlich sah Oberinspektor Brand ein, dass derartige Ermittlungen ihn nicht weiterbrachten. Überdies gelangte er mehr und mehr zur Überzeugung, dass weitere Nachforschungen im Falle Dietz vergebliche Liebesmüh waren, und die Aufklärung des Giftmordes verlief im Sande. Bald schwieg auch die Tagespresse und kaum ein Frankfurter zerbrach sich noch den Kopf über das vergiftete Dienstmädchen Gerlinde Dietz, die ja, wie jedermann inzwischen wusste, ein schlimmes Frauenzimmer war, und da brauchte man sich über ein ebensolches Ende nicht zu wundern.

      3

      Sidonie Weiß saß wie jeden Abend an ihrem Sekretär und schrieb, was ihr momentan gar nicht so recht von der Hand gehen mochte, denn sie musste immer wieder an das ermordete Dienstmädchen denken und daran, was ihr der kleine Rudi Schickel heute früh erzählt hatte. Wie immer, wenn ihr nichts mehr einfiel, warf sie einen Blick auf den gerahmten Scherenschnitt Friedrich Hölderlins, der über ihrem Schreibtisch hing. Unter dem Porträt des Dichters stand ein Zitat aus dem ›Hyperion‹:

      ›Wer nur mit ganzer Seele wirkt, irrt nie.‹

      Welch ein Genie, ging es dem Fräulein beim Anblick des Porträts durch den Sinn, und eine tiefe Wehmut erfasste sie. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Rotweinglas und beschloss, eine Pause einzulegen. Zuweilen beflügelte sie das Bildnis Hölderlins und entlockte ihr die wunderbarsten Gedanken. Manches Mal aber überkam sie bei seiner Betrachtung eine lähmende Trübsal, der sie sich ganz und gar hingab. Zumindest für eine kleine Ewigkeit. Für eine kleine Ewigkeit, die sie sich zugestand und gleichzeitig auch begrenzte. Denn früh hatte sie gelernt, dass sich die Welt wieder drehen musste, damals, als sie ihm begegnete, im Hause ihrer Cousine, Susette Gontard.

      Es gibt ein Gegengift, selbst für die Unbill einer unerwiderten Liebe!

      Sidonie trat ans Fenster und öffnete die beiden Flügel. Eine frische Abendbrise wehte ihr entgegen. Sie schaute hinunter auf die Töngesgasse. Es dämmerte bereits. Über den Häusergiebeln konnte sie schon den Abendstern erkennen. An dem milden Spätsommerabend war die Gasse voller Leben. Junge Leute standen lachend und scherzend vor den Häusern, Gassenkinder tollten herum, Frauen saßen am Fenster und hielten einen Plausch mit der Nachbarin, und die Männer kamen von der Arbeit nach Hause. Während das Fräulein verschiedene Leute grüßte und Grüße erwiderte, hielt sie Ausschau nach Rudi. Bald konnte sie den Jungen in einer Gruppe von Kindern ausmachen, die Fangen spielte. Sie rief nach ihm. Der Junge unterbrach sein Spiel, kam herbeigelaufen und erkundigte sich, mit hochgerecktem Kopf unter dem Fenster stehend, was das Fräulein von ihm wolle.

      »Komm bitte morgen früh um acht Uhr zu mir, mein Junge. Dann gehen wir zusammen zur Hauptwache, und du sagst dem Inspektor alles, was du mir heute Vormittag erzählt hast!«, teilte ihm das Fräulein in freundlichem, aber bestimmtem Tonfall mit, der keinen Widerspruch duldete.

      »Ach, Fräuleinsche, ich will aber net auf die Gendarmerie! Könne Sie da net allein hingehen und denen erzählen, was ich Ihnen gesagt hab?«, erkundigte sich Rudi flehend.

      »Nein, es ist wichtig, dass du mitkommst. Du brauchst dich doch nicht vor denen zu fürchten, du hast ja schließlich nichts ausgefressen, oder?«, bemerkte Sidonie schelmisch. »Komm, sei nicht so ein Angsthase, so kenn ich dich ja gar nicht. Außerdem bin ich ja dabei. Also sei bitte pünktlich. Ach, warte mal, hier hast du noch was.« Sidonie warf dem Jungen einen Apfel zu und begab sich wieder an ihr Schreibpult.

      Fast trotzig blickte sie auf das Gemälde, das über dem Konterfei Hölderlins an der Wand angebracht war. Es stammte aus dem späten Mittelalter und war das Porträt ihrer Ahnin, Katharina Weiß von Limpurg, der Sidonie mit ihren kupferroten Haaren, der feinen, bleichen Stirn und den meergrünen Augen auffallend glich. Katharina war eine sehr gebildete, kultivierte Dame. Sie sprach und schrieb fließend Latein und verfasste Chroniken sowie eine Vielzahl gelehrter und erbaulicher Schriften. Sidonie, die sich seit ihrer frühen Jugend schriftstellerisch betätigte, war sie ein großes Vorbild.

      Wundersam getröstet, ergriff sie ihre Feder und schrieb bis nach Mitternacht weiter.

      Sidonie Weiß, die im ausgehenden 18. Jahrhundert als einzige Tochter einer vornehmen, aber verarmten Frankfurter Patrizierfamilie geboren worden war, schrieb seit nunmehr 35 Jahren und hatte in dieser Zeit über 20 Bücher veröffentlicht. Ihre Kriminalromane und Schauergeschichten erfreuten sich weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus großer Beliebtheit, bekannt war sie vor allem aber auch durch ihre Liebesgedichte. In den vornehmen Literarischen Salons Frankfurts, in denen Sidonie ihre Werke gelegentlich zum Vortrag brachte, fragte man sich im Stillen, wie es kam, dass eine blaustrümpfige, alte Jungfer, als die das Fräulein doch bei aller Liebenswürdigkeit gelten musste, in der Lage war, derart ergreifende Liebesempfindungen zu Papier zu bringen.

      Sidonies Mutter starb kurze Zeit nach der Geburt ihrer Tochter am Kindbettfieber. Als Sidonie fünf Jahre alt war, erlag ihr Vater der Schwindsucht. Die Waise fand Aufnahme in der Familie ihres wohlhabenden Onkels, Christian Koch, wo sie gemeinsam mit ihren drei Cousins und der drei Jahre älteren Cousine Susette aufwuchs und erzogen wurde. Susette war für Sidonie bald wie eine geliebte Schwester, und Sidonie wurde wie eine leibliche Tochter behandelt. Sie erfuhr alle

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