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enttäuscht hatten, dass sie für den Rest ihres Lebens die Nase von Männern gestrichen voll habe. Nelly lachte daraufhin und erklärte, ihr ginge es genauso. Sie brauche schon lange keinen Kerl mehr, der sich auf ihre Kosten besaufen und sie als Dank dafür bei jeder Gelegenheit verdreschen und betrügen würde, wie sie das schon so oft erlebt habe. Sie käme ohne Mann besser über die Runden, und ihr fehle es an nichts. Männer seien für sie nur noch geschäftlich von Interesse, hatte sie hinzugefügt und Gerlinde dabei tief in die Augen geblickt. Gerlinde hatte sich zunächst nichts dabei gedacht und war der Meinung, Nelly meine damit ihre männliche Kundschaft. Die Blumenhändlerin war immer gut gekleidet, und Gerlinde ging davon aus, dass ihr Gewerbe entsprechend lukrativ sein müsse. Manches Mal, wenn sie sich bei Nelly am Blumenstand aufhielt, war ihr aufgefallen, wie Herren Blumen kauften und Nelly dann mit ihnen ein Stück zur Seite trat, mit ihnen tuschelte und Geld zugesteckt bekam. Immer wieder kam es vor, dass auch junge Frauen, meist Dienstmägde, an Nellys Blumenstand kamen und mit der Inhaberin flüsterten.

      Eines Tages hatte Nelly Gerlinde anvertraut, dass sie bereits als 13-Jährige ihr eigenes Geld verdiente, indem sie Lebkuchen und Backwaren auf den Straßen und Anlagen verkaufte, und zuweilen habe sie sich auf ihren Touren auch gut betuchten Herren für Geld hingegeben. Gerlinde reagierte tief betroffen und machte keinen Hehl daraus, wie sehr sie die käufliche Liebe verachtete. Nelly hielt der Freundin entgegen, dass die Männer sie, Gerlinde, doch ebenfalls nur benutzt hätten, um die Lust an ihr zu stillen, nur dass letztendlich sie selbst die Dumme gewesen sei, die einen hohen Preis dafür gezahlt habe. Das wäre aber auch andersherum möglich. Sie solle doch einmal die Augen aufmachen. Viele Mägde gingen an ihren freien Tagen einher wie feine Damen, angetan mit seidenen Kleidern und feschen Hüten, die sie sich von ihren armseligen Löhnen gar nicht leisten könnten. Oft handele es sich dabei um Geschenke ihrer Dienstherren, mit denen sie ein Liebesverhältnis unterhielten, denn es sei schließlich ein offenes Geheimnis, dass mancher Ehemann aus vornehmen Kreisen seine Magd mehr liebe als seine Gattin – was längst nicht immer auf Gegenseitigkeit beruhe. Und dadurch wären manche Dienstmädchen ein Stück schlauer geworden und hätten sich gedacht, wenn sie sich schon von den Herren des Hauses oder ihren heranwachsenden Söhnen immer betatschen lassen müssten, dann könnten sie das auch auf eigene Rechnung tun, und seien dazu übergegangen, sich mit ihren Gefälligkeiten ein lukratives Zubrot zu verdienen. Zumal viele von ihnen mit unehelichen Kindern oder stellungslosen Ehemännern belastet seien, die sie mit ernähren müssten, was sie, wie Gerlinde ja wisse, von ihren kargen Einkünften ohnehin nicht bestreiten könnten. Gerlinde solle sich doch einmal in Ruhe überlegen, ob sie das nicht auch machen wolle. Sie wäre ihr auch gerne dabei behilflich und würde dafür Sorge tragen, dass Gerlinde es nur mit ausgesuchten Herren zu tun bekäme, die sehr gut zahlen würden. Denn sie sei sich sicher, dass Gerlinde mit ihrem anziehenden Äußeren fantastisch verdienen würde. Außerdem könne man das alles so diskret handhaben, dass niemand etwas davon zu erfahren brauche, was im Übrigen auch ganz im Sinne der Kundschaft sei.

      Gerlinde, die lange über Nellys Vorschlag nachgedacht hatte, war zu dem Schluss gekommen, dass sie, was ihr Ansehen anbetraf, sowieso nichts mehr zu verlieren hatte, und sich schließlich bereit erklärt, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Sie konnte sich noch genau an dieses erste Stelldichein erinnern und wie sehr sie sich vor dem Freier geekelt hatte. Später in ihrer Kammer hatte sie sich am ganzen Körper so lange mit Kernseife abgeschrubbt, bis ihre Haut ganz rot geworden war, und trotzdem hatte sie das Gefühl gehabt, immer noch den Geruch des Mannes an sich zu haben. Doch die 40 Kreuzer waren schnell verdientes Geld, das sie dringend gebrauchen konnte, und einzig deshalb hatte sie weitergemacht, auch wenn sie sich immer noch ganz entsetzlich dafür schämte, dass ihre Söhne eine Hure zur Mutter hatten.

      Und so ging es jetzt schon seit fast einem Jahr: An ihren freien Tagen traf sich Gerlinde mit Herren. Nelly vereinbarte am Blumenstand Ort und Uhrzeit für das Rendezvous und teilte es Gerlinde mit. Leider hatte die junge Mutter dadurch noch weniger Zeit für ihre Kinder, doch sie kam wenigstens nicht mehr mit leeren Händen und wusste, dass sie genug zu essen hatten und anständig gekleidet waren.

      Als Gerlinde das große Mietshaus in der Offenbacher Luisenstraße erreichte, wo ihre Tante im zweiten Stockwerk ihre kleine Wohnung und Änderungsschneiderei hatte, war es, obwohl sie so schnell gelaufen war, dass sie ins Schwitzen gekommen war und Seitenstechen hatte, schon ein Uhr, und in drei Stunden musste sie wieder in Frankfurt sein. Die Nelly hatte ihr vorgestern noch gesagt, sie solle sich pünktlich um vier im Weingarten des Herrn Adam auf dem Klapperfeld einfinden, sich separat an einen Tisch setzen, ein Veilchenbukett am Hut tragen und warten, bis sie angesprochen werde. Es sei ein feiner Pinkel, und er zahle sehr gut, 50 Kreuzer hätten sie ausgemacht.

      Sie hatte also gerade einmal zweieinhalb Stunden Zeit für ihre Buben, und trotzdem war die Freude groß, als sie sie kurze Zeit später in die Arme schließen und ihnen die Mitbringsel übergeben konnte. Auch die Tante freute sich über die feine Lavendelseife und hatte, wie jeden Samstagnachmittag, wenn ihre Nichte zu Besuch kam, einen Kuchen gebacken und Kaffee gekocht. Die Frauen unterhielten sich, Gerlinde spielte und tobte mit ihren Jungen und wurde nicht müde, die beiden zu herzen und zu küssen, und war einfach nur glücklich. Die Zeit verging jedoch wie im Flug, und schweren Herzens musste sie sich um kurz vor halb vier von den Kindern verabschieden. Es war jeden Samstag das Gleiche mit ihnen: Wenn die Mutter kam, freuten sie sich wie die Schneekönige und jauchzten vor Glück über die Geschenke, wenn Gerlinde dann gehen musste, waren sie zu Tode betrübt und heulten jämmerlich. Gerlinde, der ebenfalls immer die Tränen kamen, versuchte tapfer zu sein und tröstete die Buben mit dem Versprechen, am nächsten Samstag wiederzukommen und ihnen etwas Hübsches mitzubringen.

      Während Gerlinde am Mainufer entlang in Richtung Frankfurt hastete, spürte sie die ganze Zeit einen Kloß im Hals. Am liebsten hätte sie sich in ein stilles, schattiges Eckchen am malerischen Mainufer zurückgezogen und sich ihrer Traurigkeit hingegeben. Nicht nur der Abschied von den Söhnen schmerzte sie in der Seele, sondern auch der Anblick der zahlreichen glücklichen Paare, die, einander untergehakt und mit ihren fröhlichen Kindern an den Händen, bei dem schönen Wetter einen Sommerspaziergang machten. Nur sie war auf sich gestellt und musste sich, anstatt bei ihren geliebten Buben bleiben zu dürfen, nun wieder mit einem wildfremden Mannsbild einlassen, vor dem es sie schon jetzt grauste. Aber sie brauchte das Geld, also musste sie sich zusammennehmen und durfte sich ihre Schwermut auf keinen Fall anmerken lassen. Sie schluckte ihre Tränen herunter und dachte wie so oft über ihren Plan nach, den sie vor einigen Monaten gefasst hatte: Sie würde sich weiterhin so gut es ging Geld zurücklegen, um sich in zwei, drei Jahren vielleicht eine Existenz als Putzmacherin aufzubauen. Sie wollte klein anfangen, in der Schneiderwerkstatt ihrer Tante, die ihr Stoffe und Dekorationen zuliefern könnte, und vielleicht würde sie es eines Tages sogar zu einem gut gehenden Laden mit Angestellten bringen, der sie alle ernährte, sodass sie nicht länger Dienstmagd sein müsste und ihren verhassten Nebenerwerb endlich loswürde. Und vor allem könnte sie dann wieder mit ihren Buben zusammenwohnen. Wäre das schön!

      In solche Tagträume versunken, überquerte Gerlinde die Mainbrücke und ging durch die lange Fahrgasse, bis sie auf die Zeil stieß. Sie bog rechts in die Stelzengasse ab, lief an der nächsten Straßenecke links und erreichte rechter Hand endlich das Klapperfeld mit seinen vielen Gartenlokalen, die an dem herrlichen Wochenende voll gutgelaunter Gäste waren. Auch der Weingarten des Herrn Adam war gut besucht. Der Wein war eher mäßig, dafür aber billig, und an den Wochenenden wurde zum Tanz aufgespielt. Die einfachen Leute aus der Nachbarschaft nutzten den Garten als Stammlokal, und auch viele Dienstmädchen und Handwerksburschen verkehrten hier an ihren arbeitsfreien Tagen. Gerlinde hatte kürzlich mit einer jungen Frau namens Irmgard ein Glas Wein hier getrunken. Wie es der Zufall wollte, saß Irmgard mit einer Gruppe anderer Dienstmägde an einem Tisch und winkte Gerlinde zu. Die Frauen begrüßten sich, und Gerlinde wurde von Irmgard eingeladen, sich zu ihnen zu gesellen, was sie mit der Erklärung, sie habe gleich eine Verabredung, bedauernd ablehnte. Die Absage wurde von Gerlindes Bekanntschaft ohne großes Aufhebens akzeptiert. Irmgard war ebenfalls Gelegenheitsprostituierte und über Gerlindes Nebenerwerb im Bilde. Die beiden hatten sich an Nellys Blumenstand kennengelernt und bald darauf hier wiedergetroffen.

      Gerlinde fand am Rande des Weingartens noch einen freien Tisch, an dem sie Platz nahm. Sie bestellte ein Glas säuerlichen Frankfurter Wein und hörte, dass es vom benachbarten

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