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Madame empfängt. Ursula Neeb
Читать онлайн.Название Madame empfängt
Год выпуска 0
isbn 9783839234723
Автор произведения Ursula Neeb
Издательство Автор
»Ja, das bin ich«, erwiderte Gerlinde erschrocken und fühlte, wie sie rot wurde. Sie hatte den Mann überhaupt nicht kommen sehen. Wie ein Geist war er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und füllte nun ihr Blickfeld mit seiner großen, hageren Gestalt aus. Er verbeugte sich und erkundigte sich höflich, ob er Platz nehmen dürfe. Während er sich gegenüber von Gerlinde niederließ, brachte der Kellner den Wein. Der Mann nestelte sofort nach seiner Brieftasche und beglich die Rechnung. Gerlinde beobachtete ihn verstohlen. Er schien noch jung zu sein, vielleicht in ihrem Alter, was jedoch schwer zu bestimmen war, denn er hatte einen dichten Backenbart, und seine Augen waren von einer dunkel getönten Brille verdeckt. Er war sehr elegant gekleidet und trug einen sandfarbenen leinenen Gehrock. Der lange, schmale Hals war bis zum Kinn von einem Vatermörderkragen umschlossen und mit einer kunstvoll geknoteten Krawatte verschnürt, die auf seine geblümte Seidenweste farblich abgestimmt war. Trotz der Hitze hatte er Handschuhe an und trug den Zylinder aus beigefarbenem Filz tief in die Stirn gezogen.
Ein feiner Pinkel, genau, wie Nelly gesagt hat, ging es Gerlinde durch den Sinn. Für eine Weile herrschte betretenes Schweigen und Gerlinde nippte verlegen an ihrem Wein. Dann räusperte sich der Mann, zückte eine goldene Taschenuhr und warf einen kurzen Blick darauf.
»Meine Liebe, was halten Sie davon, wenn wir in Bälde aufbrechen? Heute ist fürwahr ein herrlicher Tag, und wir könnten doch eine kleine Ausflugsfahrt unternehmen. Vielleicht über Bornheim bis zum Lorberg hin und dort den schönen Ausblick genießen. Und auf der Rückfahrt könnten wir noch irgendwo nachtmahlen. Sie haben doch hoffentlich genügend Zeit mitgebracht?«
»Um halb sieben muss ich wieder in Frankfurt sein, mein Herr!«
»Das sollte uns genügen. Nun denn, erheben Sie sich!«, drängte er zum Aufbruch. Gerlinde ließ ihr halbvolles Weinglas stehen und folgte dem Herrn nach draußen.
Der hat es aber eilig! Man hätte sich ja erst mal ein bisschen in Stimmung trinken können. Ein komischer Heiliger ist das. So rappeldürr und eine Stimme wie eine Frau. Die reinsten Steckenbeine hat der!
Gerlinde betrachtete die langen, dünnen Beine ihres Begleiters in den enggeschnittenen, hellgrauen Bügelhosen, die unter den Schuhen befestigt waren. Beim Hinausgehen tauschte sie noch einen vielsagenden Blick mit Irmgard, die ihr aufmunternd zunickte. Schweigend gingen sie zum nahe gelegenen Friedberger Tor, wo vor den Eingängen der Promenaden mehrere Kutschen und Droschken bereitstanden.
»Meine Liebe, wären Sie vielleicht so freundlich, schon eine Kutsche für unsere Zwecke anzumieten? Sagen Sie dem Kutscher, dass er uns zum Lorberg fahren möge und dass wir unterwegs nicht gestört zu werden wünschen. Sie wissen, was ich meine. Bezahlen Sie am besten im Voraus. Hier, das dürfte wohl genügen.« Der Mann gab Gerlinde einige Münzen und erklärte, er halte sich so lange im Hintergrund, und wenn sie alles erledigt habe, solle sie ihm einen Wink geben, er würde dann zusteigen. Als Gerlinde sich den Kutschen näherte, wurde sie von einem der Kutscher, der auf einem Kutschbock saß, mit anzüglichem Grinsen gefragt, ob sie denn wieder eine ›Porzellankutsche‹ benötige. Gerlinde kannte den Mann. Schon mehrfach hatte sie seine Kutsche für ein Rendezvous genutzt, ein in galanten Kreisen weitverbreiteter Brauch. Häufig standen Droschkenkutscher mit Kupplern und Prostituierten in Geschäftsverbindung. Gegen ein entsprechendes Trinkgeld stellten sie bereitwillig ihre Kutsche für ein Stelldichein von Hure und Freier zur Verfügung. Die Wagen waren eigens für solche Zwecke mit blickdichten Gardinen versehen, die man zuziehen konnte, und die Sitze waren besonders weich gepolstert. Auf Wunsch fuhren die Kutscher so langsam und sachte, als hätten sie zerbrechliches Porzellan geladen, weswegen eine solche Fahrt im Volksmund auch als ›Porzellanfuhre‹ bezeichnet wurde. Gerlinde trat an den Kutscher heran, bezahlte ihn und erteilte Anweisung, wohin es gehen sollte. Dann gab sie dem im Schatten eines Baumes wartenden Herrn ein Zeichen, dieser eilte herbei, und beide stiegen ein.
Gleich darauf setzte sich die Droschke in Bewegung, und der vornehme Herr zog sofort die Gardinen vor die Fenster. Im gedämpften Tageslicht saßen sich Gerlinde und ihr Freier im Kutscheninnern gegenüber. Die Stimmung war angespannt. Da zog der Mann ein kleines Päckchen aus seinem Gehrock und reichte es Gerlinde mit den Worten: »Ein kleines Präsent für Sie. Ich hoffe, Sie mögen Pralinen?«
»Vielen Dank, der Herr! Sehr freundlich. Ja, ich nasche für mein Leben gern«, bedankte sie sich artig und bewunderte die kleine Bonbonniere, die in Seidenpapier mit der Aufschrift der feinen Konditorei Krantz eingeschlagen war. Gerlinde freute sich tatsächlich über das nette Mitbringsel. Eine solche Freundlichkeit seitens eines Freiers hatte sie bisher noch nicht erlebt. Deshalb mochte sie ihm nun auch ein wenig entgegenkommen und setzte sich neben ihn. Sie schmiegte sich an ihn und erkundigte sich flüsternd nach seinen Wünschen. Der Mann zuckte zusammen und rückte zur Seite, als wäre ihm die Berührung unangenehm.
»Begebe sie sich doch bitte wieder auf Ihren Platz!«, maßregelte er Gerlinde in kaltem Tonfall, sie in der dritten Person ansprechend, wie man es Domestiken gegenüber für angemessen erachtete und fuhr, ein wenig milder werdend, fort: »Nichts für ungut, aber wir haben ja schließlich noch Zeit genug, und mit Verlaub, ich habe es auch nicht so eilig. Vielleicht können wir uns ja ein wenig unterhalten und, meine Liebe, Sie können doch einstweilen schon einmal von dem Konfekt kosten«, forderte er Gerlinde auf und lächelte sie zum ersten Mal an. Gerlinde erwiderte sein Lächeln und nickte zustimmend.
Was für ein Stockfisch! Dem muss man Zeit lassen. Das wird ein schweres Stück Arbeit werden!
Sie gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass es sich bei ihrem Begleiter um einen sehr schüchternen jungen Mann handeln müsse, der wahrscheinlich noch nie intimen Kontakt zu einer Frau hatte. Andererseits kam er ihr aber auch recht sonderbar vor, und es wurde ihr ganz mulmig in seiner Gegenwart. Mit dem lapidaren Gedanken, dass sie halt an ein verstocktes Söhnlein aus gutem Hause geraten war, rief sie sich wieder zur Räson und öffnete ihr Geschenk. Drei herzförmige Pralinen der Geschmacksrichtungen Nugat, Vollmilch und Zartbitter waren in der mit Spitzenpapier ausgelegten Schachtel angeordnet wie ein dreiblättriges Kleeblatt. Auf einem rosafarbenen