Скачать книгу

wo man isst, stimmt’s? Ich warte bis Atlanta.

      Ich hab mir letzte Woche online Infos über Atlanta geholt. OMG. Es gibt Viertel, die sind total schwul. Geschäfte, Bars… Das wird der HAMMER.

      Jake starrte fassungslos auf die Worte. Die Ähnlichkeiten waren unheimlich. Hatte er nicht angefangen, Gesichter von Jungs zu bemerken, die bis zu jenem Jahr lediglich genau das gewesen waren – Gesichter? Nur, dass er sie plötzlich mit anderen Augen gesehen hatte. Und ja, die Augen waren das, worauf Jake am meisten achtete. Und als er erst mal diese Richtung eingeschlagen hatte, fuck, da hatten sich die Schleusentore geöffnet…

      Dieser letzte Gedanke brachte ihn wieder zurück zum Tagebuch. Er hatte mitgekriegt, dass Caleb in diesen Monaten, bevor er zum College ging, aufgeregt gewesen war und es für eine Reaktion darauf gehalten, LaFollette zu verlassen, neue Freunde zu finden und für Vorfreude auf ein neues Abenteuer. Jetzt allerdings sah er es als das, was es gewesen war. Ein junger Mann, der sich noch nicht geoutet hatte und sehnsüchtig darauf wartete, die Beschränkungen einer kleinen Stadt in Tennessee hinter sich zu lassen und so zu leben, wie er wirklich war. Die Chance, endlich er selbst zu sein.

      Jake hatte nie gedacht, dass Caleb und er sich so ähnlich wären. Warum auch? Er war elf gewesen, als Caleb gegangen war, und in den Jahren danach hatten sie sich kaum gesehen. Hatten zu wenig Zeit miteinander verbracht, um die Ähnlichkeiten zu bemerken. Aber Calebs ureigenste Gedanken und Gefühle schwarz auf weiß auf dem Bildschirm zu sehen, machte Jake bewusst, wie viel er tatsächlich verloren hatte. Wie ähnlich Caleb und er einander tatsächlich gewesen waren.

      Er warf einen Blick auf den Bildschirm. Der Juni-Eintrag ging weiter und ihm fiel etwas auf, was seinen Magen in Aufruhr versetzte. Etwas über seinen Daddy.

      Hab im Fernsehen Bilder von einer Pride-Parade in New York City gesehen. Daddy hat einen halblauten Kommentar abgegeben, bei dem sich mir der Magen umdrehte, irgendwas über schlappschwänzige Schwuchteln, und dann den Sender gewechselt. Schlappschwänzig? Ergibt das überhaupt Sinn? Egal. Es ist der Gedanke, der zählt, stimmt’s? Mama hat ihn gehört. Sie sah aus, als hätte sie an einer Zitrone gelutscht. Gott sei dank war Jake im Bett. Dem Kurzen entgeht nichts. Und er würde etwas merken. Erst letzte Woche hat er Mama gefragt, ob sie jemanden kennt, der schwul ist. Wo kriegt er so was mit? In der Schule? Weiß Gott. Eins ist jedenfalls sicher. Er wird nichts von seinem großen Bruder erfahren.

      Calebs Beschreibung der Reaktion seines Daddys spiegelte nur wider, was Jake bereits selbst gesehen hatte. War nicht das der Grund, warum er die letzten beiden Jahre geschwiegen hatte? Das Bruchstück eines Gesprächs zwischen seinem Daddy und Mrs. Talbot von nebenan hatte seine Befürchtungen verstärkt. Sie war eines Wochenendes mit einer Schachtel Eier von ihren Hühnern vor der Haustür gestanden und Daddy hatte ihr geöffnet. Jake war im Wohnzimmer gewesen und ein Teil ihrer Unterhaltung hatte ihn die Ohren spitzen lassen. Irgendeine wohlmeinende Freundin hatte Mrs. Talbot angerufen und ihr gesagt, dass sie gesehen hatte, wie Mrs. Talbots Großneffe in Knoxville eine Schwulenbar betrat. Mrs. Talbot hatte darauf erwidert, dass es ihr lieber wäre, er wäre schwul, als dass er jemanden heiratete, der nicht weiß war.

      Daddy hatte geschnaubt und eine Bemerkung darüber gemacht, dass vor seinem Haus keine Regenbogenfahnen wehen würden, vielen Dank auch.

      Jake war das Herz schwer geworden. Erst als er später an diesem Abend in seinem Bett lag, war die ganze Bedeutung von Mrs. Talbots Worten bei ihm angekommen. Es gibt in Knoxville eine Schwulenbar? Knoxville war nur vierzig Meilen entfernt. Bei der Vorstellung, so eine Bar zu besuchen, hämmerte sein Herz und seine Handflächen wurden feucht. Dann tat er den Gedanken ab. Er würde nie den Mut aufbringen, allein dort hinzugehen.

      Mühsam wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Tagebuch zu. Er wollte es lange bevor seine Eltern nach Hause kamen zu Ende gelesen haben. Es war ein sehr sonderbares Gefühl, seine eigenen Gedanken und Gefühle in Calebs Worten reflektiert zu sehen.

      Hab ein Zimmer im Studentenwohnheim gefunden. Werde mit vier anderen Jungs zusammenwohnen. Um ehrlich zu sein, kann ich es kaum erwarten, aus LaFollette rauszukommen. In letzter Zeit fühlt es sich an, als könnte ich nicht ich selbst sein. Ich achte ständig darauf, was ich sage oder tue, selbst wenn ich mit Murmelchen zusammen bin, und das tut weh. Wenn ich mit meinen Freunden abhänge, kommt es mir die ganze Zeit vor, als würde ich mich verstecken. Gestern Abend war einfach… beschissen. Wir waren alle bei Burger King, draußen am Jacksboro Pike, und Vaughan tauchte mit ein paar Mädchen auf. Jede Menge Make-up und zu viel Parfüm, daran hat sich nichts geändert. Tja, eine von ihnen – ich glaube, sie hieß Becca – fing an, mich anzumachen. Ich meine, sie hing an mir wie eine Schlingpflanze. Ich fühlte mich wie in der Falle. Es war offensichtlich, was sie wollte, und dann sagte Corey, seine Eltern seien nicht da und ob ich sein Zimmer haben wollte.

      Alle grinsten, als würden sie absolut erwarten, dass ich sie irgendwohin mitnehme und sie ficke. Klar, als hätte ich schon jemals ein Mädchen gefickt. Aber das mussten sie nicht wissen. Ich habe es durch die Highschool geschafft, indem ich gelogen hatte, dass sich die Balken bogen. Hatte meinen Freunden zugehört, die scheinbar bei jeder sich bietenden Gelegenheit ficken. Prima. Wahrscheinlich hatten sie Eltern, die anders waren als meine. Gott, ich kann in meinem Kopf immer noch Mamas Stimme hören, wie sie sich über Keuschheit auslässt. Darüber, sich für die Ehe aufzusparen. Mädchen zu respektieren.

      Das wirklich Seltsame daran? Ich hab ihr das alles abgekauft. Ich hab es geglaubt. Es gelebt.

      Außerdem gab es absolut keine Gelegenheit.

      Ach du großer Gott. Caleb hatte nie Sex gehabt?

      Jake schüttelte den Kopf. Nee. Das glaub ich ihm nicht. Okay, soweit er sich erinnern konnte, waren da nicht viele Mädchen gewesen, aber dass Caleb mit keiner von ihnen einen Schritt weiter gegangen war? Doch der Teil über Mama und Das Gespräch… das klang so echt. Und dann überdachte er das Ganze noch einmal. Caleb war siebzehn gewesen, als er diese Worte geschrieben hatte. Es war nicht so schwer zu glauben, dass er bis zu diesem Zeitpunkt enthaltsam gewesen war. Denn die Sache von wegen absolut keine Gelegenheit? Ja, das kam Jake bekannt vor, ganz zu schweigen von der Angst, seine Mama zu enttäuschen.

      Und was ist mit mir? Wie kann ich seinen Worten nicht glauben, wenn es mir genauso geht, und ich bin neunzehn, um Himmels willen! All die Male, wenn Pete, Dan oder Mike damit geprahlt hatten, wen sie fickten und wie heiß sie war… Hatte er nicht auch das Blaue vom Himmel heruntergelogen? Er hatte geheimnisvoll getan, als könnte er ihren Namen nicht verraten, und sie hatten darauf mit Gelächter und Zwinkern reagiert und ihm gegen den Arm geboxt. Und die Stelle darüber, sich die ganze Zeit zu verstecken… Herrgott.

      Ein bisschen weiter unten auf der Seite entdeckte Jake seinen Spitznamen.

      Ich zähle die Tage bis zum College. Es kann nicht schnell genug so weit sein. Bis dahin werde ich mich beschäftigt halten. Murmelchen wünscht sich ein Baumhaus hinter dem Haus, also werde ich Daddy helfen, eines zu bauen. Das ist etwas, das ich vermissen werde, wenn ich gehe – Zeit mit dem Knirps zu verbringen. Manchmal sehe ich ihn mit Daddy im Holzschuppen. Total niedlich. Daddy hat ihm zu Weihnachten einmal Spielzeugwerkzeug gekauft und es war urkomisch zuzuschauen, wie er Daddy imitierte und so tat, als würde er Holz sägen. Ich schätze, es liegt ihm im Blut.

      Tränen stiegen Jake in die Augen und er wischte sie weg. Gott, ich erinnere mich an diesen Sommer. Eine Woge der Trauer wusch über ihn hinweg, so intensiv, dass sein Herz schmerzte. Lange, heiße, sonnige Tage. Caleb, der mit ihm zum Bach hinunterging, und wie er quietschte, wenn Caleb ihm Wasser über den Rücken goss. Caleb, der sich mit ihm ins Baumhaus quetschte und zuhörte, wenn Jake ihm aus einem seiner Bücher vorlas. Gefühlt tausend Erinnerungen, von denen jede einen scharfen Schmerz auslöste, bis er die Tränen, die ihm über die Wangen liefen, nicht mehr zurückhalten konnte. Ein Blick auf den folgenden Eintrag machte es nur noch schlimmer.

      September.

      Ich kann nicht glauben, dass ich endlich hier bin!

      Daddy hat mich heute Morgen total überrascht. Ich stand im Morgengrauen auf, um all meine Sachen in seinen Pick-up zu laden – und in unserer Einfahrt stand ein Auto, ein Chevy. Natürlich ein gebrauchter und

Скачать книгу