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Ein Geschenk von Mama und Daddy. Ich hätte fast geheult.

      Hab Jake fest umarmt, bevor ich abgefahren bin. Ich hab versprochen, ihm Briefe zu schreiben, aber ich weiß, das wird nicht passieren. Wie oft hab ich denn hier was geschrieben? Ich hab’s nicht so mit dem Schreiben. Aber ich werd ihn anrufen. Er war so mitgenommen, als ich gefahren bin. Werde meinen kleinen Bruder vermissen.

      Jake konnte nicht mehr ertragen. Mit Tränen in den Augen scrollte er durch das Dokument, las hier und dort ein paar Sätze, dankbar für die Einträge über banale Dinge wie Vorlesungen, Partys und Alltagskram. Die Einträge wurden immer weitschweifiger und Jake überflog das meiste davon. Ich kann das auch ein anderes Mal noch lesen. Momentan war er zu aufgeregt, um den Dingen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdienten. Er suchte nach Antworten. Es gab Hinweise auf Schwulenbars und Clubs in Atlanta und Beweise dafür, dass Caleb seine neu gefundene Freiheit liebte. Es gab sogar eine winzige Andeutung, dass er Sex gehabt hatte, aber wie es Calebs Art war, beschränkte sich das auf den Namen eines Mannes, gefolgt von mehreren Ausrufezeichen und Smileys.

      Jake war das nicht unrecht. Das Letzte, was er lesen wollte, war ein ausführlicher Bericht darüber, wie sein Bruder gefickt hatte. Er war absolut in der Lage, zwischen den Zeilen zu lesen, und außerdem gab es einige Dinge, die er wirklich nicht wissen musste.

      Ungefähr in der Mitte des Tagebuchs wurde Liams Name zum ersten Mal erwähnt, eine beiläufige Bemerkung darüber, dass er ihn auf einer Party getroffen hatte. Caleb bezeichnete Liam als stur, was Jake zum Lachen brachte. Ein Esel schimpft den anderen Langohr. Erst in Calebs drittem Studienjahr tauchte Liams Name wieder auf, aber diesmal war es offensichtlich, dass sie ein paarmal miteinander ausgegangen waren. Jake ließ sich mehr Zeit und las aufmerksamer. Caleb gab nicht viel preis, aber danach zu urteilen, dass er Liam immer öfter erwähnte, wurde es ernster zwischen ihnen.

      Und dann stach eine Zeile zwischen all den anderen heraus.

      Es war ein Eintrag kurz vor dem Ende seines dritten Studienjahres. Es war nur eine Zeile, aber so beeindruckend, dass Jake nicht darüber hinweglesen konnte.

      26. Juni 2011

      Ich glaube, ich liebe ihn.

      Jake sackte gegen die Kissen. Dann ist es wahr.

      Er schloss erschöpft die Augen. Caleb, du hättest es mir sagen können. Er könnte sich selbst dafür in den Hintern treten, dass er nicht früher auf ihn zugegangen war, sich nicht mehr darum bemüht hatte, mit Caleb Kontakt aufzunehmen. Dass er die Situation einfach akzeptiert hatte, anstatt etwas zu unternehmen. Die ganze Wut, die er mühsam in den Griff bekommen hatte, kochte wieder hoch, als er schlussfolgerte, dass er hier nicht wirklich der Schuldige war.

      Caleb hatte kein Wort gesagt.

      Kein. Verficktes. Wort.

      Nicht nur das, er war weggeblieben. Hatte Jake im Stich gelassen, als er seinen großen Bruder am meisten gebraucht hatte.

      Wie konnte er das verfickt noch mal TUN?

      Eine Welle heißer Wut spülte Erinnerungen an die Oberfläche. Die Zeiten, wenn Caleb mal nach Hause gekommen war – nicht, dass er lange geblieben wäre, nur ein paar Tage –, hatten immer auf die gleiche Weise geendet. Damit, dass Caleb seine Tasche ins Auto warf und sich dann mit ausgebreiteten Armen zu Jake umdrehte. Ihn so fest umarmte, dass er fast keine Luft mehr bekam, und dann diese Worte sagte. Immer die gleichen Worte, bei jedem Besuch.

      »Wenn du mich je brauchst, ruf einfach an, okay? Ich bin immer für dich da.«

      Jake knallte den Deckel des Laptops zu und warf ihn auf die Bettdecke. »Aber das warst du nicht, oder? Du warst nicht für mich da, und fuck, ich habe dich gebraucht. Warum, Caleb? Warum bist du weggeblieben?« Seine Stimme hallte von den Wänden wider.

      Das knirschende Geräusch von Reifen auf Schotter hinderte ihn daran, weitere Fragen in das Universum zu schicken. Mama und Daddy waren wieder zu Hause. Jake schob den Laptop unter sein Kopfkissen, ohne sich die Mühe zu machen, ihn herunterzufahren. Erst als er sich zu beruhigen versuchte, wurde ihm klar, dass er das Ladekabel in Atlanta gelassen hatte.

      Verdammt. Er würde Liam anrufen oder ein neues kaufen müssen. Wenn es denn für einen mindestens zehn Jahre alten Laptop noch ein passendes gab. Nicht, dass er eine Ausrede brauchte, um Liam anzurufen.

      Er wollte Antworten, die nur Liam ihm geben konnte.

      Kapitel 9

      Drei Tage später war Jake mehr als sauer.

      Warum geht er kein einziges verdammtes Mal ans Telefon?

      Drei Tage voller Nachrichten, noch mehr Nachrichten und Anrufe, aber alles, was es ihm einbrachte, war Schweigen. Offensichtlich wollte Liam nicht reden und je länger es dauerte, umso wütender und emotionaler wurde Jake. Er hatte Calebs Tagebuch so oft von vorne bis hinten durchgelesen, dass er es auswendig kannte. Mit seinem Daddy zu arbeiten, bot nicht genügend Ablenkung. Er konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken.

      Caleb kann nicht schwul gewesen sein. Ich hätte es gewusst.

      Er sagte sich, dass das Tagebuch übertrieben war, es war ja nicht so, dass es eine Menge Details enthielt. Er verglich es damit, was manche Mädchen im Teenageralter in ihre Tagebücher schrieben, wenn sie diese Fantasiegeschichten darüber erfanden, in jemanden verliebt zu sein.

      Allerdings wusste Jake tief in seinem Inneren, dass das eine schwachsinnige Theorie war. Er war nicht einmal sicher, warum er überhaupt mit Liam reden wollte. Ursprünglich hatte Jake die blödsinnige Idee gehabt, ihn damit zu konfrontieren, ihn zu zwingen zuzugeben, dass Caleb das alles erfunden hatte.

      Wem will ich da was vormachen? Das ist einfach nicht stichhaltig.

      Jake musste etwas unternehmen. Den Blicken nach zu urteilen, die sein Daddy ihm immer wieder zuwarf, war Jakes Verhalten unberechenbar genug, dass es ihm aufgefallen war. Das Letzte, was Jake wollte, war, dass er anfing Fragen zu stellen, denn es wäre nicht viel nötig und er würde zusammenbrechen.

      Es hatte keinen Zweck. Er musste mit Liam reden.

      Mittwochabend nach dem Abendessen ging Jake in den Hinterhof hinaus und machte sich auf den Weg zu seinem Baumhaus. Es war Jahre her, dass er dort gespielt hatte. Manchmal waren Pete oder Dan oder andere Freunde zu Besuch gekommen und Mama hatte ihnen Limonade und Chips gebracht. Sie hatten Comics oder Spielkarten dabei, je nachdem, wonach ihnen gerade zumute war, und sich dort oben vor den neugierigen Blicken der Erwachsenen versteckt.

      Für einen kleinen Jungen, der seinen Bruder vermisste, waren diese Tage kostbar.

      Jake setzte sich unter den Baum, den Rücken gegen den massiven Stamm gelehnt, und zog sein Handy heraus.

      Komm schon, Liam. Geh ran. Nur ein einziges Mal. Jake blieb dran, hörte zu, wie es klingelte, wollte nicht aufgeben, als würde Ausdauer irgendwann belohnt werden.

      Allem Anschein nach war das der Fall.

      Liams Seufzen drang an sein Ohr. »Warum hast du bloß dieses dringende Bedürfnis, mich anzurufen, Jake? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mittlerweile all deine Antworten hast.« Er hörte sich hundemüde an.

      Was auch immer Jake hatte sagen wollen, war wie weggeblasen. »Das ist nicht wahr«, platzte er heraus. Und sobald er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, wie dumm er klang.

      Einen Moment herrschte Schweigen. »Oh. Mein. Gott. Wenn das alles ist, was du mir zu sagen hast, beende ich dieses Gespräch auf der Stelle.«

      »Warte!« Panik machte sich in ihm breit, sein Herz raste. Zu seiner großen Erleichterung tat Liam, worum er ihn gebeten hatte, und bevor Jake seine Gedanken richtig formulieren konnte, übernahm sein Mund das Kommando. »Caleb war schwul? Du und Caleb… ihr wart wirklich zusammen?«

      Noch ein Seufzer. »Du hast den Laptop. Ich weiß nicht, was du dort gefunden hast – ob du mir das glaubst oder nicht –, aber wenn du dir das zusammengereimt hast, dann weißt du, dass du nicht der Einzige bist, der hier leidet.«

      Heilige

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