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      »Ja, ich bin be­reit.«

      So­bald sie ge­früh­stückt hat­ten, mach­ten sie sich auf den Weg.

      Als sie in das Büro des Herrn La­ma­neur ka­men, er­hob sich der Bü­ro­vor­ste­her mit ei­ner auf­fal­len­den Dienst­fer­tig­keit und führ­te sie zu sei­nem Chef.

      Der No­tar war ein klei­ner, voll­kom­men runder Mann. Sein Kopf glich ei­ner Ku­gel, die auf ei­ner an­de­ren grö­ße­ren Ku­gel auf­ge­setzt war, die­se zwei­te Ku­gel wur­de von zwei Bei­nen ge­tra­gen, die ih­rer­seits so klein und kurz wa­ren, dass sie auch wie zwei run­de Ku­geln aus­sa­hen.

      Er be­grüß­te sie, bat Platz zu neh­men; dann wand­te er sich an Ma­de­lei­ne:

      »Ma­da­me, ich habe Sie her­ge­be­ten, um Sie von dem In­halt des Te­sta­ments des Gra­fen Vau­drec in Kennt­nis zu set­zen, das Sie be­trifft.«

      Ge­or­ges konn­te sich nicht ent­hal­ten und flüs­ter­te:

      »So hab’ ich’s mir auch ge­dacht.«

      Der No­tar setz­te hin­zu:

      »Ich will Ih­nen gleich das Te­sta­ment vor­le­sen, es ist üb­ri­gens ganz kurz.« Er nahm aus ei­ner Map­pe, die vor ihm lag, einen Bo­gen her­aus und las: »Ich, En­des­un­ter­zeich­ne­ter, Paul-Emi­le-Cy­pri­en-Gon­tran Com­te de Vau­drec, ge­sund an Kör­per und See­le, be­stim­me hier­mit mei­nen letz­ten Wil­len. Da der Tod uns in je­dem Au­gen­bli­cke tref­fen kann, so will ich in Voraus­set­zung sei­nes Ein­trit­tes, mein Te­sta­ment nie­der­schrei­ben, das bei dem No­tar La­ma­neur hin­ter­legt wird.

      Da ich kei­ne di­rek­ten Er­ben habe, hin­ter­las­se ich mein ge­sam­tes Ver­mö­gen, be­ste­hend aus Wert­pa­pie­ren in Höhe von ca. 600000 Fran­cs und aus Im­mo­bi­li­en in Höhe von ca. 500000 Fran­cs, Ma­da­me Claire-Ma­de­lei­ne Du Roy als ihr un­be­las­te­tes frei­es Ei­gen­tum. Ich bit­te sie, die­se Gabe ei­nes to­ten Freun­des als Be­weis ei­ner auf­rich­ti­gen, tie­fen und er­ge­be­nen Zu­nei­gung ent­ge­gen­zu­neh­men.«

      Der No­tar fuhr fort:

      »Das ist al­les. Die­ses Schrift­stück ist vom Au­gust letz­ten Jah­res da­tiert und ist an Stel­le ei­nes gleich­lau­ten­den Do­ku­men­tes ge­tre­ten, das vor zwei Jah­ren auf den Na­men von Claire-Ma­de­lei­ne Fo­res­tier aus­ge­stellt war. Auch die­ses ers­te Do­ku­ment be­fin­det sich in mei­nem Be­sitz, und im Fal­le ei­ner An­fech­tung von sel­ten der Ver­wand­ten könn­te man da­mit be­wei­sen, dass der Graf de Vau­drec sei­nen Wil­len nicht ge­än­dert hat­te.«

      Ma­de­lei­ne wur­de blass und blick­te hin­un­ter auf ihre Füße. Ge­or­ges dreh­te ner­vös sei­nen Schnurr­bart zwi­schen den Fin­gern. Nach ei­ner kur­z­en Pau­se fuhr der No­tar fort:

      »Selbst­ver­ständ­lich, mein Herr, kann Ma­da­me die­se Hin­ter­las­sen­schaft nur mit Ih­rer Zu­stim­mung an­neh­men.«

      Du Roy stand auf und sag­te in trock­nem Tone:

      »Ich bit­te um Be­denk­zeit.«

      Der No­tar lä­chel­te, und sag­te mit lie­bens­wür­di­ger Stim­me:

      »Ich be­grei­fe die Be­den­ken, die Sie zau­dern las­sen. Ich habe noch hin­zu­zu­fü­gen, dass der Nef­fe des Gra­fen Vau­drec, als er heu­te früh von dem letz­ten Wil­len sei­nes On­kels Kennt­nis nahm, sich be­reit er­klär­te, den­sel­ben an­zu­er­ken­nen, falls man ihm die Sum­me von hun­dert­tau­send Fran­cs aus­zahl­te. Nach mei­ner An­sicht ist das Te­sta­ment un­an­fecht­bar, aber ein Pro­zess wür­de Auf­se­hen er­re­gen, was Sie wahr­schein­lich ver­mei­den wol­len. Die Welt ur­teilt be­kannt­lich oft sehr bos­haft. Je­den­falls wür­de ich Sie bit­ten, mich noch vor Sonn­abend von Ihrem de­fi­ni­ti­ven Ent­schluss über alle Punk­te in Kennt­nis zu set­zen.«

      Ge­or­ges ver­beug­te sich:

      »Gut, Herr La­ma­neur.«

      Dann ver­ab­schie­de­te er sich fei­er­lich, ließ sei­ne Frau, die gar nichts mehr sag­te, vor­an­ge­hen und ver­ließ das Büro in so stei­fer und ge­mes­se­ner Wei­se, dass der No­tar nicht mehr lä­chel­te.

      So­bald sie nach Hau­se ge­kom­men wa­ren, schloss Du Roy hef­tig die Tür hin­ter sich und warf sei­nen Hut aufs Bett.

      »Du bist Vau­drecs Ge­lieb­te ge­we­sen?«

      Ma­de­lei­ne hat­te ih­ren Schlei­er ab­ge­legt und dreh­te sich schroff um:

      »Ich, oh!«

      »Ja, du. Man hin­ter­lässt nicht ei­ner Frau sein gan­zes Ver­mö­gen … ohne dass …«

      Sie be­gann zu zit­tern und konn­te nicht die Na­deln fas­sen, mit de­nen ihr durch­sich­ti­ger Schlei­er ans Haar be­fes­tigt war.

      Sie dach­te einen Au­gen­blick nach und stam­mel­te mit er­reg­ter Stim­me:

      »Hör mal … du bist ver­rückt … du bist … du bist … und du selbst … du hast ja vor­her — auch ge­hofft … er wür­de dir auch et­was ver­ma­chen.«

      Ge­or­ges stand vor ihr und be­ob­ach­te­te sie, wie ein Un­ter­su­chungs­rich­ter, der die ge­rings­ten Schwä­chen des An­ge­klag­ten zu ent­de­cken sucht. Er er­wi­der­te, in­dem er je­des Wort be­ton­te:

      »Ja … mir hät­te er was hin­ter­las­sen kön­nen, mir, dei­nem Gat­ten … mir, sei­nem Freun­de … ver­stehst du … Dir doch nicht … dir, sei­ner Freun­din … dir, mei­ner Gat­tin … Der Un­ter­schied ist sehr we­sent­lich und so­gar aus­schlag­ge­bend vom Stand­punkt der öf­fent­li­chen Mei­nung … in den Au­gen der Ge­sell­schaft …«

      Ma­de­lei­ne blick­te ihm gleich­falls scharf in die durch­sich­ti­gen Au­gen, tief und son­der­bar, als woll­te sie in die un­be­kann­ten Tie­fen sei­nes We­sens ein­drin­gen, die man nur sel­ten in flüch­ti­gen Au­gen­bli­cken er­fas­sen kann, in den Au­gen­bli­cken der Acht­lo­sig­keit, der Ver­ge­ss­lich­keit des Sich­ge­hen­las­sens, die dann wie halb­ge­öff­ne­te Tü­ren sind, die in die ge­heim­nis­vol­len Ab­grün­de der See­le füh­ren.

      Sie ver­setz­te lang­sam:

      »Mir scheint doch … dass, wenn … dass man eine Erb­schaft in die­ser Höhe von ihm zu dei­nen Guns­ten min­des­tens eben­so auf­fal­lend ge­fun­den hät­te.«

      Er frag­te hef­tig:

      »Wa­rum?«

      »Weil« … sag­te sie, und nach kur­z­em Zau­dern fuhr sie fort:

      »Weil du mein Mann bist … und ihn erst seit kur­z­er Zeit kennst, wäh­rend ich schon sehr lan­ge mit ihm be­freun­det war … und weil sein ers­tes Te­sta­ment, das noch zu Leb­zei­ten Fo­res­tiers ab­ge­fasst war, doch mir galt.«

      Ge­or­ges ging mit großen Schrit­ten im Zim­mer auf und ab und er­klär­te:

      »Du kannst das nicht an­neh­men.«

      »Gut,« ant­wor­te­te sie gleich­gül­tig, »also dann brau­chen wir erst gar nicht bis Sonn­abend zu war­ten. Wir kön­nen die­sen Ent­schluss Herrn La­ma­neur so­fort mit­tei­len.«

      Er blieb vor ihr ste­hen und sie sa­hen sich Auge in Auge. Sie woll­ten bei­de bis ins tiefs­te Ge­heim­nis ih­res Her­zens ein­drin­gen und ihre in­ners­ten Ge­dan­ken er­grün­den.

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