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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
Читать онлайн.Название Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962817695
Автор произведения Guy de Maupassant
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
»Du lügst, es kann nicht möglich sein.«
Sie entgegnete ruhig:
»Es ist doch so.«
Er begann wieder auf und ab zu gehen, dann blieb er stehen:
»Erkläre mir dann, warum hinterlässt er sein ganzes Vermögen ausgerechnet dir?«
Sie tat gleichgültig und uninteressiert, als ob sie die Sache gar nichts anginge.
»Es ist sehr einfach. Wie du eben sagtest, hatte er keine Freunde außer uns, oder vielmehr außer mir, da er mich seit meiner Kindheit kennt. Meine Mutter war Gesellschafterin bei seinen Eltern. Er kam sehr oft hierher, und da er keine direkten Erben hatte, hat er an mich gedacht. Dass er mich etwas lieb hatte, ist sehr gut möglich. Aber welche Frau ist auf solche Weise nie geliebt worden. Dass diese stille und geheime Liebe ihn meinen Namen aufs Papier schreiben ließ, als er seine letzte Verfügung getroffen hatte, kann auch sein. Er brachte mir jeden Montag Blumen. Du warst doch darüber gar nicht erstaunt, und dir brachte er keine mit, nicht wahr? Heute vermacht er mir sein Vermögen aus demselben Grund und da er wahrscheinlich sonst niemanden hat, dem er es geben könnte. Es wäre im Gegenteil höchst sonderbar, wenn er es dir hinterlassen hätte. Warum? — Was bist du für ihn?«
Sie sprach so natürlich und so ruhig, dass Georges zu zaudern begann.
Er erwiderte:
»Das ist egal. Wir können die Erbschaft unter solchen Bedingungen unmöglich annehmen. Das würde den schlechtesten Eindruck erwecken. Alle Welt würde daran glauben, das Schlimmste vermuten und sich über mich lustig machen. Meine Kollegen sind sowieso schon neidisch auf mich und lauern auf die Gelegenheit, mich anzugreifen. Ich muss mehr als jeder andere auf meine Ehre und auf meinen Ruf bedacht sein. Ich kann unmöglich zugeben, dass meine Frau eine derartige Erbschaft von einem Mann annimmt, den das Gerücht schon zu ihrem Liebhaber gestempelt hat. Vielleicht hätte sich das Forestier gefallen lassen, ich aber nicht.«
Sie murmelte sanft:
»Also gut, mein Freund, wir nehmen es nicht an, dass macht bloß eine Million weniger in unserer Tasche aus, weiter ist ja nichts.«
Er ging noch immer auf und ab und begann laut zu denken; er sprach zu seiner Frau, ohne das Wort direkt an sie zu richten.
»Nun ja! eine Million … umso schlimmer … Er hat ja eben bei der Abfassung des Testaments nicht begriffen, was für einen Taktfehler und was für einen Verstoß gegen die gesellschaftlichen Konventien er damit begangen hatte. Er hatte nicht gedacht, in welche schiefe und lächerliche Lage er mich bringen würde. Alles kommt im Leben auf die Umstände an… Er hätte mir die Hälfte hinterlassen sollen und alles wäre in bester Ordnung gewesen.«
Er setzte sich, schlug die Beine übereinander und zupfte an den Spitzen seines Schnurrbartes, wie er das in den Stunden der Sorge, der Langweile und des schweren Nachdenkens zu tun pflegte.
Madeleine griff nach einer Stickerei, an der sie hin und wieder arbeitete;, suchte die Wollfäden heraus und sagte:
»Ich habe nur stillzuschweigen. Du musst dir die Sache überlegen.«
Lange saß er schweigend da, dann versetzte er zögernd:
»Die Welt wird nie begreifen können, dass Vaudrec dich zu seiner Universalerbin eingesetzt hat und dass ich so etwas geduldet habe. Solch ein Vermögen auf so eine Weise anzunehmen, das würde einem Geständnis gleichbedeutend sein … Du würdest deinerseits ein verbotenes Verhältnis zugeben und ich eine niederträchtige Schwäche … verstehst du, wie man unsere Annahme auslegen würde? Man müsste einen Ausweg finden, irgendein geschicktes Mittel, wie man die Sache vertuschen könnte. Man könnte beispielsweise durchblicken lassen, dass er sein Vermögen uns zu gleichen Teilen vermacht hat, die eine Hälfte dem Manne, die andere der Frau.«
Sie fragte:
»Ich sehe nicht ein, wie das zu machen wäre, da doch das Testament eine gesetzliche Kraft hat?«
»Oh, das ist ganz einfach,« antwortete er, »du könntest mir die Hälfte der Erbschaft als Schenkung zu Lebzeiten übertragen. Wir haben keine Kinder, das geht sehr gut zu machen. Auf diese Weise würden wir dem böswilligen Gerede ein Ende bereiten.«
Sie erwiderte etwas ungeduldig:
»Ich sehe nicht ein, wieso man dem böswilligen Gerede entgehen kann, da doch die Urkunde, die Vaudrec unterzeichnet hat, nicht wegzuleugnen ist.«
»Wir brauchen sie doch gar nicht vorzuzeigen«, rief er zornig aus, »und sie öffentlich an die Wand zu schlagen. Du bist zu dumm. Wir sagen, Graf de Vaudrec hat sein Vermögen uns beiden zu je einer Hälfte hinterlassen … Weißt du, du kannst doch die Erbschaft ohne meine Zustimmung überhaupt nicht antreten. Ich gebe sie dir nur unter der Bedingung einer Teilung, die mich vor dem Gespött der Welt bewahrt.«
Sie sah ihn mit einem durchbohrenden Blick an.
»Wie du willst, ich bin bereit.«
Dann stand er auf und ging wieder auf und ab, er schien wieder zu schwanken und vermied jetzt den scharf beobachtenden Blick seiner Frau.
»Nein, in keinem Fall« sagte er. »Vielleicht soll man überhaupt verzichten … es ist würdiger, korrekter, ehrenhafter … Übrigens auf diese Weise könnte man uns auch nicht das Geringste nachsagen. Die gewissenhaftesten Leute könnten sich nur davor verbeugen.«
Er blieb vor Madeleine stehen.
»Also schön, wenn du willst, gehe ich nochmals zu Lamaneur, ich setze ihm die Sache auseinander und frage ihn um Rat. Ich erkläre ihm mein Bedenken und teile ihm mit, dass wir uns zu einer Teilung entschlossen haben, um die Leute nicht über uns klatschen zu lassen. Von dem Augenblick an, wo ich die Hälfte der Erbschaft annehme, ist es ja selbstverständlich, dass niemand das recht hat, über die Sache zu lächeln. Das würde mit anderen Worten heißen: Meine Frau nimmt die Erbschaft an, da ich, ihr Gatte, sie auch annehme, und als solcher habe ich zu bestimmen, was sie tun kann, ohne sich zu kompromittieren. Sonst hätte es ja einen Skandal gegeben.«
»Wie du willst«, murmelte Madeleine einfach.
Er redete weiter:
»Ja, bei dieser Teilung der Erbschaft in zwei Hälften liegt die Sache sonnenklar. Wir beerben einen Freund, der keinen Unterschied zwischen uns machte, keinen von uns bevorzugte und nicht den Schein erwecken wollte, als meinte er: ›Ich gebe nach meinem Tode einem von beiden den Vorzug, wie ich ihn zu meinen Lebzeiten vorgezogen habe.‹