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Der alte Mann war ohne Stellung, ohne Einkünfte, ohne Brot. Da er für einen armen Neffen zu sorgen hatte, für den er im Seminar von Saint-Sulpice die Pension bezahlte, kam er, weniger für sich selbst als für seinen Adoptivsohn, seinen ehemaligen Schüler zu bitten, er möchte sich bei dem neuen Minister für ihn verwenden. Es war ihm nicht einmal um die Wiedereinsetzung in sein früheres Lehramt zu tun, sondern nur um eine Rektorstelle an irgendeinem Provinzgymnasium. Raphael war von einer unüberwindlichen Schlafsucht befallen, als die eintönige Stimme des redlichen Alten schließlich aufhörte, in seinen Ohren zu tönen. Aus Höflichkeit hatte er dem Greis bei dessen langsamen und umständlichen Darlegungen in die farblosen und fast starren Augen geblickt, und eine unerklärliche Trägheit war über ihn gekommen und hatte ihn magnetisiert und fast betäubt.

      »Nun ja, guter Vater Porriquet«, erwiderte er, ohne recht zu wissen, auf welche Frage er antwortete, »da kann ich nichts tun, gar nichts. Ich wünsche lebhaft, es möchte Ihnen gelingen …«

      Mit einemmal bäumte sich Raphael, der gar nicht darauf achtete, welche Wirkung diese banalen, egoistischen und leichtfertigen Worte auf der gelben, runzligen Stirn des Alten hervorbrachten, heftig auf wie ein aufgescheuchtes junges Wild. Er bemerkte eine dünne weiße Linie zwischen dem Rand des schwarzen Leders und der roten Kontur; er stieß einen so furchtbaren Schrei aus, daß der arme Professor entsetzt zusammenfuhr.

      »Fort, alter Blödian!« rief er, »Sie werden zum Rektor ernannt werden! Konnten Sie nicht eine Leibrente von 1000 Talern erbitten, statt eines derart mörderischen Wunsches! Dann hätte Ihr Besuch mich nichts gekostet. Es gibt 100000 Stellen in Frankreich, und ich habe nur ein Leben! Ein Menschenleben ist mehr wert als alle Stellen der Welt … Jonathas!« Jonathas erschien.

      »Das hast du nun angestellt, du dreifacher Trottel! Warum hast du mir vorgeschlagen, diesen Herrn da zu empfangen?« Damit wies er auf den Alten, der wie versteinert dastand. »Habe ich meine Seele in deine Hände gelegt, damit du sie in Stücke reißt? Du hast mir in diesem Augenblick zehn Jahre meines Lebens geraubt! Noch einen Fehler wie den, dann kannst du mich an den Ort bringen, wo ich meinen Vater hingebracht habe. Da hätte ich doch wahrhaftig besser getan, die schöne Fœdora zu besitzen, als dem alten Gerippe da, diesem Jammerlappen, einen Dienst zu erweisen! Ich habe Gold für ihn genug. Und außerdem, wenn alle Porriquets in der Welt Hungers stürben, was kümmert das mich?«

      Raphaels Gesicht war vor Zorn fast weiß geworden; ein leichter Schaum trat auf seine zitternden Lippen, und in seinen Augen lag Mordlust. Bei diesem Anblick wurden die beiden Alten von krampfhaftem Zittern befallen; sie standen da wie zwei Kinder vor einer Schlange. Der junge Mann sank in seinen Sessel zurück; in seiner Seele vollzog sich eine Art Reaktion, und in Strömen flossen die Tränen aus seinen flammenden Augen.

      »Oh, mein Leben! mein schönes Leben!« stöhnte er. »Keine wohlwollenden Gedanken mehr! Keine Liebe! Nichts!« Er wandte sich zum Professor. »Das Unglück ist geschehen, alter Freund«, sagte er mit sanfter Stimme. »Sie sind für Ihre treuen Dienste nun reichlich belohnt; und mein Unglück wird wenigstens einem guten und würdigen Manne Gutes bringen.« Es lag in diesen fast unverständlichen Worten so viel Seele, daß die beiden Alten weinten, wie man wohl beim Anhören einer rührenden Melodie in einer fremden Sprache weint.

      »Er ist Epileptiker«, flüsterte Porriquet.

      »Ich verstehe Ihre Güte, alter Freund«, versetzte Raphael sanft, »Sie wollen mich entschuldigen. Krankheit ist ein mißlicher Zufall, Unmenschlichkeit hingegen wäre ein Laster. Verlassen Sie mich jetzt!« fügte er hinzu. »Sie werden morgen oder übermorgen, vielleicht noch heute abend Ihre Ernennung erhalten, denn der »Widerstand« hat über die »Bewegung« gesiegt … Adieu.«

      Der Greis zog sich, von Entsetzen gepackt und in lebhafter Unruhe über Valentins Geisteszustand, zurück. Dieser Auftritt hatte für ihn etwas Übernatürliches gehabt. Er zweifelte an sich selbst und fragte sich, ob er aus einem schweren Traum erwache.

      »Höre, Jonathas«, sagte der junge Mann zu seinem alten Diener, »gib dir Mühe, die Aufgabe, die ich dir anvertraut habe, endlich zu begreifen.«

      »Ja, Monsieur le Marquis.«

      »Ich bin wie ein Mensch, der außerhalb der gewöhnlichen Daseinsgesetze steht.«

      »Ja, Monsieur le Marquis.«

      »Alle Genüsse des Lebens wiegen sich um mein Totenbett und umtanzen mich wie schöne Frauen; wenn ich sie rufe, sterbe ich. Immer der Tod! Du mußt eine Schranke sein zwischen mir und der Welt.«

      »Ja, Monsieur le Marquis«, sagte der Diener und trocknete die Schweißtropfen, die auf seiner runzligen Stirn standen. »Aber wenn Sie keine schönen Frauen sehen wollen, was wollen Sie dann heute abend in der Italienischen Oper? Eine englische Familie, die nach London zurückreist, hat mir den Rest ihres Abonnements abgetreten, und Sie haben eine schöne Loge, oh, eine prächtige Loge im ersten Rang.«

      Raphael war in tiefes Träumen versunken und hörte nicht mehr zu.

      Sehen Sie diesen prunkvollen Wagen, dieses äußerlich schlichte und braune Coupé, auf dessen Türen aber das Wappen einer alten Adelsfamilie glänzt? Wenn dieses Coupé vorüberrollt, bewundern es die Grisetten, werfen begehrliche Blicke auf den gelben Atlas, die echte Savonneriedecke, die Borten, die wie Reisstroh blinken, die molligen Kissen und die geschlossenen Scheiben. Zwei Lakaien in Livree stehen hinten auf diesem aristokratischen Gefährt; innen aber liegt auf Seidenkissen ein fiebrig-brennender Kopf mit umränderten Augen, der Kopf von Raphael, traurig und in sich gekehrt. Düsteres Bild des Reichtums. Er rast durch Paris wie eine Rakete, langt am Säulenvorbau des Théâtre Favart an, der Tritt wird heruntergelassen, seine beiden Diener stützen ihn, eine neidische Menge starrt ihn an.

      »Was hat der getan, daß er so reich ist?« fragte ein armer Student der Rechte, dem der Taler fehlte, um die bezaubernden Klänge Rossinis hören zu können.

      Raphael schritt langsam durch die Gänge des Theaters; er versprach sich von diesem Vergnügen, das er früher so ersehnt hatte, keinerlei Genuß. Den zweiten Akt der »Semiramis« erwartend, ging er im Foyer auf und ab, irrte durch die Galerien, unbekümmert um seine Loge, die er noch nicht betreten hatte. Das Gefühl für Eigentum existierte für ihn nicht mehr. Wie alle Kranken dachte er nur an sein Leiden. An den Kamin im Foyer gelehnt, wo junge und alte Stutzer, frühere und jetzige Minister, Pairs ohne Pairswürde und Pairswürden ohne Pairs, wie sie die Julirevolution hervorgebracht hat, und schließlich eine Menge Spekulanten und Journalisten auf und ab wandelten, erblickte Raphael, einige Schritte von sich entfernt, unter all diesen Köpfen ein seltsames, gleichsam übernatürliches Gesicht. Er näherte sich diesem absonderlichen Wesen, um es aus der Nähe zu betrachten, wobei er ungeniert die Augen zusammenkniff. »Was für eine wunderbare Malerei!« sagte er sich. Die Brauen, die Haare, das Spitzbärtchen à la Mazarin, mit dem der Unbekannte sich eitel spreizte, waren schwarz gefärbt; aber da das Schönheitsmittel offenbar auf zu weißes Haar aufgetragen war, hatte es eine violette, widernatürliche Färbung erzeugt, deren Töne je nach den mehr oder weniger starken Reflexen der Lichter wechselten. Sein schmales und plattes Gesicht, dessen Falten mit einer dicken Schicht Puder und Rouge bedeckt waren, drückte zugleich Verschlagenheit und Unruhe aus. An einigen Stellen fehlte die Schminke, und das abgelebte Gesicht, seine bleierne Haut traten um so deutlicher hervor; so konnte man das Lachen nicht verbeißen, wenn man diesen Kopf mit dem spitzen Kinn und der vorstehenden Stirn sah, der an die grotesken Holzschnitzereien erinnerte, die deutsche Schäfer in ihren Mußestunden schnitzten. Wer abwechselnd diesen alten Adonis und Raphael betrachtete, hätte in dem Marquis die Augen eines Jünglings in der Maske eines Greises und in dem Unbekannten die erloschenen Augen eines Greises in der Maske eines jungen Mannes zu erkennen geglaubt. Valentin suchte sich zu erinnern, wo und wann er diesen vertrockneten Alten schon gesehen hatte, der so eine zierliche Halsbinde trug, gestiefelt und gespornt wie ein Jüngling einherschritt, und die Arme über der Brust kreuzte, als hätte er alle Kräfte einer sprühenden Jugend zu verschwenden. In seinem Gang lag nichts Vorgetäuschtes oder Erzwungenes. Den alten, starkknochigen Körper vermummte ein eleganter, sorgfältig zugeknöpfter Rock und verlieh ihm das Aussehen eines alten Gecken, der noch der Mode huldigt. Diese seltsame lebendige Puppe hatte für Raphael den ganzen Reiz einer Gespenstererscheinung, und er betrachtete sie wie einen alten, verräucherten, kürzlich restaurierten, gefirnißten und in einen

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