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Augenblick«, erwiderte Cardot, den ein ganzer Chor von schlechten Witzen niederschrie, »ich komme in einer ernsten Sache. Ich bringe einem von Ihnen sechs Millionen.« (Tiefes Schweigen). »Monsieur«, wandte er sich an Raphael, der eben damit beschäftigt war, sich ohne viel Umstände mit einem Zipfel seiner Serviette die Augen auszuwischen, »war Ihre Frau Mutter nicht eine geborene O'Flaharty?«

      »Jawohl«, antwortete Raphael mechanisch, »Barbe-Marie.«

      »Haben Sie«, fuhr Cardot fort, »Ihren Geburtsschein und den der Madame de Valentin bei sich?«

      »Ich glaube.«

      »Also, Monsieur, Sie sind der einzige und ausschließliche Erbe des Majors O'Flaharty, der im August 1828 in Kalkutta gestorben ist.«

      »Das ist ja ein Vermögen, das nicht zu ›kalkuttieren‹ ist!« rief der Nörgler.

      »Der Major hatte testamentarisch mehrere Legate für öffentliche Anstalten ausgesetzt, und nun hat die französische Regierung bei der Indischen Handelsgesellschaft den Nachlaß eingefordert«, fuhr der Notar fort; »die Erbschaft ist in diesem Augenblick flüssig und kann angetreten werden. Seit vierzehn Tagen suchte ich vergebens die Rechtsnachfolger der Demoiselle Barbe-Marie O'Flaharty, bis gestern bei Tisch …«

      In diesem Augenblick sprang Raphael plötzlich mit einer heftigen Bewegung auf wie jemand, der eine Wunde empfängt. Es ging wie ein schweigender Zuruf durch den Raum; die erste Regung der Gäste wurde von dumpfem Neid diktiert; alle Blicke richteten sich wie stechende Flammen auf ihn. Dann begann ein Murmeln, ähnlich dem Murren eines unzufriedenen Theaterpublikums; eine rebellische Stimmung kam auf und wuchs, und jeder sagte ein Wörtchen, mit dem er das ungeheure Vermögen, das der Notar gebracht hatte, begrüßte. Raphael, durch den prompten Gehorsam des Schicksals wieder völlig bei Sinnen, legte sofort die Serviette auf den Tisch, an der er vor wenigen Stunden das Chagrinleder gemessen hatte. Er hörte auf keine der Bemerkungen, legte den Talisman darauf, und ein Schauder überlief ihn, denn er bemerkte zwischen der auf das Leinen gezogenen Kontur und der des Leders einen kleinen Abstand.

      »Nun, was hat er denn?« rief Taillefer, »er ist wohlfeil zu seinem Vermögen gekommen.«

      »Steh ihm bei, Chatillon!« zitierte Bixiou, zu Émile gewandt, »die Freude wird ihn töten!«

      Eine furchtbare Blässe ließ jeden Muskel in dem welken Gesicht dieses Erben hervortreten, seine Züge verkrampften sich, die vorspringenden Partien seines Gesichtes wurden kreidebleich, die Höhlungen tiefschwarz, eine fahle Maske, die Augen starrten. Er sah den TOD. Dieser üppige Bankier im Kreise der verwelkten Kurtisanen, diese übersättigten Gesichter, dieser Todeskampf des Genusses waren ein leibhaftes Abbild seines Lebens. Dreimal sah Raphael seinen Talisman an, der zwischen den unbarmherzigen Linien auf der Serviette Spielraum hatte, er versuchte zu zweifeln, aber ein klares Vorgefühl machte seinen Unglauben zunichte. Die Welt gehörte ihm, er konnte alles und wollte nichts mehr. Wie ein Reisender in der Wüste hatte er ein kleines Quantum Wasser gegen den Durst und mußte sein Leben nach der Zahl der Schlucke bemessen. Er sah, daß jeder Wunsch ihm Tage seines Lebens kosten würde. Nun glaubte er an das Chagrinleder, er lauschte auf seinen Atem, fühlte sich schon krank, fragte sich: »Bin ich nicht schwindsüchtig? Ist nicht meine Mutter an einem Lungenleiden gestorben?«

      »Oh, Raphael«, rief Aquilina, »jetzt werden Sie in Saus und Braus leben! Was schenken Sie mir?«

      »Trinken wir auf den Tod seines Onkels, des Majors O'Flaharty! Das war ein Mann!«

      »Er wird Pair von Frankreich werden.«

      »Bah! was ist nach der Julirevolution ein Pair von Frankreich!« meinte der Nörgler.

      »Wirst du dir eine Loge in den Bouffons nehmen?«

      »Ich hoffe, Sie werden uns alle freihalten!« sagte Bixiou.

      »Ein Mann wie er wird alles in großem Stil erledigen«, meinte Émile.

      Das Hurra dieser lachenden Gesellschaft scholl Valentin in den Ohren, ohne daß er den Sinn eines einzigen Wortes zu fassen vermochte; unbestimmt gedachte er des eintönigen, wunschlosen Lebens eines bretonischen Bauern, der eine Herde Kinder hat, sein Feld bestellt, Buchweizen ißt, Apfelwein aus dem Krug trinkt, an die Jungfrau Maria und den König glaubt, am Osterfest zur heiligen Kommunion geht, am Sonntag auf dem grünen Rasen tanzt und von der Predigt seines Pfarrers kein Wort versteht. Das Schauspiel, das sich in diesem Augenblick seinen Blicken darbot, dieses vergoldete Tafelwerk, diese Kurtisanen, dieses Gelage, dieser Luxus, all das würgte ihn in der Kehle, er mußte husten.

      »Wünschen Sie Spargel?« rief ihm der Bankier zu.

      »Ich wünsche nichts!« fuhr ihn Raphael mit Donnerstimme an.

      »Bravo!« gab Taillefer zurück. »Sie verstehen, was es heißen will, reich zu sein. Es ist ein Freibrief für die Unverschämtheit. Sie sind einer der Unsern! Messieurs, trinken wir auf die Macht des Goldes. Monsieur de Valentin ist sechsfacher Millionär und damit eine Macht geworden. Er ist König, er kann alles, er steht über allem, wie alle Reichen. Für ihn ist von jetzt ab der Satz »alle Franzosen sind vor dem Gesetz gleich!« eine an der Spitze der Charta stehende Lüge. Nicht er wird den Gesetzen, sondern die Gesetze werden ihm gehorchen. Für Millionäre gibt es kein Schafott und keine Henker!«

      »Richtig«, erwiderte Raphael, »sie sind ihre eigenen Henker!«

      »Noch ein Vorurteil!« rief der Bankier.

      »Trinken wir!« rief Raphael und steckte den Talisman in die Tasche.

      »Was machst du da?« frage Émile und hielt seine Hand fest. »Messieurs!« damit wandte er sich an die Gesellschaft, die über das Benehmen Raphaels recht verblüfft war, »Sie müssen wissen, daß unser Freund, was sage ich, Monsieur le Marquis de Valentin, ein Geheimnis besitzt, um reich zu werden. Seine Wünsche erfüllen sich in dem Augenblick, wo er sie hegt. Wenn er nicht als gemein und herzlos gelten will, wird er uns alle reich machen.«

      »Ach, lieber kleiner Raphael«, rief Euphrasie, »ich möchte ein Perlenkollier.«

      »Wenn er dankbar ist, schenkt er mir zwei Equipagen mit edlen, flinken Pferden davor«, bettelte Aquilina.

      »Wünschen Sie für mich 100000 Livres Rente!«

      »Mir Kaschmir!«

      »Bezahlen Sie meine Schulden!«

      »Schicke meinem Oheim, dem zähen Kerl, einen Schlag!«

      »Raphael, 10000 Livres Rente, und ich bin dir ewig dankbar!«

      »Das sind vielleicht Schenkungen!« rief der Notar. »Mich müßte er von der Gicht heilen.«

      »Lassen Sie den Rentenkurs sinken!« rief der Bankier. Alle diese Rufe schössen in die Höhe wie die Feuergarben am Schluß eines Feuerwerks. Diese hitzigen Wünsche waren vielleicht mehr ernst als scherzhaft gemeint.

      »Lieber Freund«, sagte Émile mit ernster Miene, »ich werde mich mit 200000 Livres Rente begnügen; sei so nett und besorge das!«

      »Émile«, erwiderte Raphael, »weißt du nicht, was mich das kostet?«

      »Eine schöne Entschuldigung!« rief der Dichter. »Müssen wir uns nicht für unsere Freunde opfern?«

      »Ich hätte fast Lust, euch allen den Tod zu wünschen«, sagte Valentin und warf einen tiefen, düsteren Blick auf die Anwesenden.

      »Sterbende sind gräßlich grausam«, versetzte Émile lachend.

      »Du bist nun reich«, fügte er ernsthaft hinzu, »keine zwei Monate geb ich dir, dann bist du ein ganz schmutziger Egoist. Dumm bist du schon, verstehst keinen Spaß mehr. Jetzt fehlt nur noch, daß du an dein Chagrinleder glaubst.«

      Raphael, der die Spottreden dieser Gesellschaft fürchtete, blieb still, trank über die Maßen und berauschte sich, um für einen Augenblick die unheimliche Macht, die er besaß, zu vergessen.

      Der Todeskampf

      In den ersten Dezembertagen schritt ein siebzigjähriger Greis ungeachtet des Regens durch die Rue de Varennes, schaute an jedem Gebäude empor und suchte mit der Naivität eines Kindes

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