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ohne sich Zeit zu lassen, bis seine Füße trockneten, die bis zum Knöchel in Blut gewatet sind, unaufhörlich immer wieder Krieg angezettelt? Also erfährt der Mensch in seiner Gesamtheit ebenso einen Rausch wie die Natur ihre Anwandlungen von Liebe? Für den Privatmann, für den Mirabeau, der in einer Zeit des Friedens vegetiert und von Stürmen träumt, birgt Ausschweifung alles in sich, sie ist für ihn ein unaufhörliches Umschlingen des ganzen Lebens, oder vielmehr ein Duell mit einer unbekannten Macht, mit einem Ungeheuer. Zuerst erschreckt ihn das Ungeheuer, man muß es bei den Hörnern fassen, was unerhörte Anstrengungen erfordert. Hat die Natur euch einen zu engen oder trägen Magen gegeben? Zwingt ihn, weitet ihn; lernt den Wein vertragen, zähmt den Rausch, bringt die Nächte schlaflos zu und entwickelt schließlich das Naturell eines Kürassierobersten, so erschafft ihr euch selber ein zweites Mal, wie Gott zum Trotz! Wenn der Mensch sich auf diese Weise verwandelt hat, wenn der Neuling – ein alter Soldat – seine Seele an den Donner der Geschütze, seine Beine an den Marsch gewöhnt hat, ohne noch dem Ungeheuer verfallen zu sein, ohne noch zu wissen, wer von beiden die Oberhand gewinnen wird, dann wälzen sie sich wild im Kampfe, bald Sieger, bald Besiegter, in einer Sphäre, wo alles wundervoll ist, wo die Seelenqualen einschlummern und nur Trugbilder des Geistes aufleben. Und schon ist dieser wilde Kampf zum Bedürfnis geworden. Da der Ausschweifende eine leibhafte Verkörperung jener Fabelgestalten ist, die der Legende nach dem Teufel ihre Seele verkauft haben, um von ihm die Macht zu erlangen, Böses zu tun, hat er den Tod gegen alle Genüsse des Lebens getauscht, gegen überschäumende, fruchtbare Lust! Anstatt gemächlich zwischen zwei eintönigen Ufern dahinzufließen, in einem Kontor oder einer Studierstube, schäumt und sprudelt das Leben wie ein Sturzbach. Kurz, Ausschweifung ist für den Körper, was mystische Freuden für die Seele sind. Die Trunkenheit taucht den Menschen in Träume, deren phantastische Gebilde so seltsam sind wie die der Ekstase. Er erlebt Stunden, entzückend wie die Launen eines jungen Mädchens, köstliche Plauderstunden mit Freunden, vernimmt Worte, die ein ganzes Leben ausdrücken, genießt Freuden frei ohne Hintergedanken, reist ohne zu ermüden, ganze Dichtungen erstehen ihm aus ein paar Sätzen. Der brutalen Befriedigung der Bestie Mensch, in deren Innerem die Wissenschaft eine Seele gesucht hat, folgt eine wunderbare Betäubung, nach der die ihres Geistes überdrüssigen Menschen sich sehnen. Verspüren sie nicht all die Notwendigkeit völliger Ruhe, und ist die Ausschweifung nicht eine Art Steuer, die das Genie dem Bösen zahlt? Sieh dir all die großen Männer an: wenn sie nicht wollüstig sind, hat die Natur ihnen einen kümmerlichen Körper gegeben. Eine Macht, sei sie nun boshaft oder eifersüchtig, verdirbt ihnen die Seele oder den Körper, um gegen die Mühen ihres Talents ein Gegengewicht zu schaffen. In solchen Stunden des Weinrausches erscheinen uns Menschen und Dinge in den Gewändern, die wir selbst ihnen geben. Als König der Schöpfung wandeln wir sie nach unserem Gefallen. In diesem fortwährenden Fiebertaumel gießt uns das Spiel nach unserem Willen sein flüssiges Blei in die Adern. Eines Tages sind wir dem Ungeheuer hörig, dann gibt es, wie es mir erging, ein fürchterliches Erwachen: die Ohnmacht sitzt an unserem Bett. Den alten Krieger verzehrt die Schwindsucht; eine Herzerweiterung hält das Leben des Diplomaten am seidenen Faden; mir sagt vielleicht bald eine Lungenentzündung: »Erledigt!«, wie einstmals zu Raffael aus Urbino, den seine Ausschweifungen in der Liebe dahingerafft haben. Sieh, so habe ich gelebt! Ich bin entweder zu früh oder zu spät in das Leben dieser Welt geraten; zweifellos wäre meine Kraft ihr gefährlich geworden, wenn ich sie nicht auf diese Art zerrüttet hätte; wurde die Welt nicht von Alexander befreit durch den Herkuleskelch, den er am Ende eines Gelages leerte? Kurz, gewisse vom Schicksal betrogene Existenzen brauchen den Himmel oder die Hölle, die Ausschweifung oder das Hospiz auf dem Sankt Bernhard. Deswegen hatte ich nicht den Mut, diesen beiden Geschöpfen«, damit wies er auf Euphrasie und Aquilina, »Moral zu predigen. Waren sie nicht die Verkörperung meiner Geschichte, ein Abbild meines Lebens? Ich vermochte sie nicht anzuklagen, sie erschienen mir wie Richter. Mitten in diesem erlebten Gedicht, dieser betäubenden Krankheit hatte ich aber zwei Krisen, die mir eine Fülle herber Schmerzen bereiteten. Zunächst begegnete ich einige Tage, nachdem ich mich wie Sardanapal auf meinen Scheiterhaufen geworfen hatte, im Foyer der Bouffons Fœdora. Wir warteten auf unsere Wagen. – »Ah, finde ich Sie also noch am Leben!« So etwa konnte man ihr Lächeln und die boshaften leisen Worte deuten, die sie ihrem Begleiter zuraunte, dem sie sicherlich meine Geschichte erzählte, wobei sie meine Liebe zu einer ganz gewöhnlichen Liebe herabwürdigte. Sie beglückwünschte sich zu ihrem falschen Scharfblick. Oh, um ihretwillen zu sterben, sie noch immer anzubeten, sie vor Augen zu haben in meinen Ausschweifungen, im Rausch, im Bett der Kurtisanen und Zielscheibe ihres Spottes sein! Oh, daß ich nicht meine Brust zerfleischen, meine Liebe herausreißen und ihr zu Füßen werfen konnte. Ich erschöpfte meinen Schatz natürlich rasch; aber drei Jahre mäßigen Lebens hatten mich mit einer überaus robusten Gesundheit versehen, und an dem Tage, da ich kein Geld mehr hatte, ging es mir ganz vortrefflich. Um meinen Selbstmord fortsetzen zu können, unterzeichnete ich kurzfristige Wechsel, und der Zahltag kam heran. Grausame Erregungen! Wie sie Leben in die jungen Herzen bringen! Ich war noch nicht zum Altern geschaffen; meine Seele war noch immer jung, lebhaft und frisch. Meine ersten Schulden riefen alle meine Tugenden wieder wach; sie nahten mit langsamen Schritten und schienen verzweifelt. Ich wußte mich aber mit ihnen abzufinden wie mit alten Tanten, die uns anfänglich schelten und dann Tränen und Geld spenden. Meine Fantasie aber war strenger; sie hielt mir meinen Namen vor, wie er von Stadt zu Stadt, auf allen Plätzen Europas ausgeschrieben wurde. – »Unser Name sind wir selbst«, hat Eusèbe Salverte gesagt. Ich sah mich also selbst, wie ich in der Welt herumvagabundierte und schließlich wie der Doppelgänger in der Geschichte eines Deutschen in meine Wohnung zurückkam, die ich doch nicht verlassen hatte, um mich selbst aus dem Schlaf zu schrecken. Früher hatte ich diese Bankmenschen, diese Vertreter kommerziellen Gewissens, stets in Grau gekleidet – sie tragen die Livree ihres Herrn, der Silbermünze –, gleichgültig in den Straßen von Paris wahrgenommen; jetzt aber haßte ich sie im voraus. Würde nicht eines Morgens einer von ihnen für die elf Wechsel, die ich gekritzelt hatte, Bezahlung verlangen? Meine Unterschrift war 3000 Francs wert, ich selbst nicht so viel! Mit ihren Mienen, gleichgültig gegen jede Verzweiflung, selbst gegen den Tod, erstanden die Gerichtsvollzieher vor mir wie Henker, die zu einem Verurteilten sagen: ›Es hat halb vier Uhr geschlagen, Ihre Schreibknechte hatten das Recht, sich meiner zu bemächtigen, meinen Namen zu kritzeln, ihn zu beschmutzen, ihn zu verspotten. »Ich schuldete.« Schulden haben, heißt das noch sich selbst gehören? Konnten nicht fremde Menschen Rechenschaft über mein Leben verlangen? Mich fragen, warum ich Puddings à la chipolata gegessen hätte? Warum ich Eisgekühltes tränke? Warum ich schliefe, ginge, dachte, vergnügt wäre, ohne sie zu bezahlen? Mitten in einem Gedicht, in einem Gedankengang oder beim Frühstück im Kreis der Freunde, der Lust, vergnügter Scherzreden konnte ich einen Herrn in braunem Rock mit einem schäbigen Hut in der Hand eintreten sehen. Dieser Herr wird meine Schuld, wird mein Wechsel sein, ein Gespenst, das meine Freude verdirbt, mich zwingt, vom Tische aufzustehen und mit ihm zu sprechen; er wird mir meinen Frohsinn, meine Geliebte, wird mir alles wegnehmen, bis auf das Bett. Die Reue ist weniger fürchterlich, sie setzt uns nicht auf die Straße und bringt uns nicht in Schuldhaft, sie taucht uns nicht in diesen gräßlichen Sündenpfuhl; sie bringt uns nur auf das Schafott, wo der Henker uns adelt: im Augenblick unserer Hinrichtung glaubt jeder an unsere Unschuld, wohingegen die Gesellschaft dem Wüstling ohne Geld keine Tugend lässt. Und zu alledem noch diese zweibeinigen Schulden, die, in grünes Tuch gekleidet, blaue Brillengläser oder bunte Regenschirme tragen; diese fleischgewordenen Schulden, denen wir just in dem Augenblick, in dem wir eben vergnügt lächeln, an einer Straßenecke von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, diese Leute, die das gräßliche Privileg haben, zu sagen: – »Monsieur de Valentin schuldet mir Geld und bezahlt mich nicht. Er gehört mir! Daß er mir ja kein unfreundliches Gesicht schneidet!« Man muß also seine Gläubiger grüßen, recht freundlich grüßen. – ›Wann gedenken Sie mich zu bezahlen?‹ fragen sie. Und wir sind genötigt zu lügen, einen anderen wegen Geldes anzuflehen, vor einem dummen Tropf, der auf seinem Säckel sitzt, einen Bückling zu vollführen, seinen kalten Blick, einen Blutegelblick auszuhalten, der schlimmer ist als eine Ohrfeige, sich seiner Rechenmoral und seiner krassen Unwissenheit zu beugen. Eine Schuld ist ein Werk der Phantasie, für das sie kein Verständnis haben. Ein Aufschwung der Seele reißt so manches Mal einen Menschen dazu hin, Schulden zu machen, und beherrscht ihn, während die, die im Gelde leben und nichts als das Geld kennen, von nichts Großem beherrscht, von nichts Edelmütigem geleitet werden. Ich hatte einen

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