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Feuer krümmt, sprach bitterer Kummer im Kampf mit einem despotischen Charakter. Wäre ein Maler diesem seltsamen, klapperdürren alten Mann in seinem schwarzen Anzug begegnet, hätte er ihn, ins Atelier zurückgekehrt, wahrscheinlich sofort in seinem Skizzenbuch verewigt und darunter geschrieben: »Klassischer Poet auf der Suche nach einem Reim.« Nachdem dieser leibhaftig wiedererstandene Rollin die Nummer gefunden hatte, die ihm angegeben worden war, klopfte er behutsam an das Tor eines prächtigen Gebäudes.

      »Ist Monsieur Raphael zu Hause?« fragte der wackere Alte einen Schweizer in Livree.

      »Monsieur le Marquis empfängt niemanden«, erwiderte der Diener und verschlang dabei eine riesige Brotscheibe, die er in eine große Kaffeetasse getunkt hatte.

      »Sein Wagen steht dort«, sagte der unbekannte Alte und wies auf eine glänzende Equipage, die unter einem hölzernen Vordach in Form eines Zeltes stand, das zugleich die Stufen der Freitreppe vor dem Regen schützte. »Er wird bald ausfahren, ich werde warten.«

      »Ja, Alterchen, da können Sie bis morgen früh hier warten«, versetzte der Schweizer. »Es steht immer ein Wagen für Monsieur bereit. Bitte, gehen Sie; ich würde 600 Francs Leibrente verlieren, wenn ich nur einmal unerlaubt einen fremden Menschen eintreten ließe.« In diesem Augenblick trat ein hochgewachsener Greis, dessen Tracht der eines Türhüters in einem Ministerium glich, aus dem Vestibül und stieg rasch ein paar Stufen herab, wobei er den verblüfft dastehenden bejahrten Bittsteller prüfend musterte.

      »Da kommt übrigens Monsieur Jonathas«, sagte der Schweizer, »sprechen Sie mit ihm.«

      Die beiden alten Männer, die sich durch Sympathie oder durch gegenseitige Neugier zueinander hingezogen fühlten, trafen in der Mitte des weiten Innenhofes zusammen an einem Rondell, wo zwischen den Pflastersteinen ein paar Grasbüschel wuchsen. Schreckliche Stille herrschte in diesem Palast. Wer Jonathas sah, war versucht, das Geheimnis zu lüften, das seine Züge beschattete und von dem jede Kleinigkeit in diesem düsteren Hause zeugte. Als er die riesige Erbschaft seines Oheims angetreten hatte, war es Raphaels erste Sorge gewesen, herauszufinden, wo der alte ergebene Diener lebte, auf dessen Anhänglichkeit er sich verlassen konnte. Jonathas weinte vor Freude, als er seinen jungen Herrn wiedersah, dem er für ewig Lebewohl gesagt zu haben glaubte; aber nichts kam seinem Glück gleich, als der Marquis ihm die wichtigen Aufgaben eines Verwalters übertrug. Der alte Jonathas wurde eine Zwischeninstanz zwischen Raphael und der Welt. Oberster Vermögensverwalter seines Herrn, blinder Vollstrecker eines unbekannten Willens, war er gleichsam ein sechster Sinn, durch den allein die Wellen des Lebens zu Raphael gelangten.

      »Monsieur«, sagte der Alte zu Jonathas und stieg ein paar Stufen der Freitreppe hinauf, um sich vor dem Regen zu schützen, »ich möchte Monsieur Raphael sprechen.«

      »Monsieur le Marquis sprechen?« rief der Verwalter; »kaum daß er ein Wort zu mir sagt, und ich bin doch sein Pflegevater!«

      »Aber auch ich bin sein Pflegevater!« rief der alte Mann; »wenn Ihre Frau ihn einst säugte, so war ich es, der ihn den Musen an die Brust legte. Er ist mein Pflegling, mein Kind, mein carus alumnus! Ich habe seinen Verstand geformt, sein Urteilsvermögen entwickelt, seinen Geist geschärft, und, wie ich zu behaupten wage, mir zur Ehre und zum Ruhm. Ist er nicht einer der bedeutendsten Männer unserer Zeit? Bei mir war er in der Sexta, in der Tertia und in der Klasse für Rhetorik. Ich bin sein Lehrer.«

      »Ah! Sie sind Monsieur Porriquet?«

      »Richtig. Aber Monsieur …«

      »Pst! pst!« fuhr Jonathas zwei Küchenjungen an, deren Stimmen das klösterliche Schweigen brachen, das über dem Hause ruhte.

      »Aber, Monsieur«, begann der Lehrer von neuem, »der Marquis ist doch hoffentlich nicht krank?«

      »Oh, Monsieur«, erwiderte Jonathas, »Gott allein weiß, wie es um meinen Herrn steht. Sehen Sie, es gibt in Paris kein zweites Haus wie das unsere. Verstehen Sie? Kein zweites. Monsieur le Marquis hat diesen Palast, der vormals einem Herzog und Pair gehört hat, kaufen lassen. Er hat es für 300000 Francs ausstatten lassen. Nicht wahr, das ist doch ein Sümmchen: 300000 Francs! Aber dafür ist auch jedes Zimmer unseres Hauses ein wahres Wunder. ›Schön!‹ sag ich mir also, wie ich diese Herrlichkeit sehe, ›das ist ganz so wie beim seligen Monsieur, seinem Großvater: der junge Marquis will die Stadt und den Hof empfangene Nichts damit. Monsieur wollte keine Menschenseele sehen. Er führt ein komisches Leben, Monsieur Porriquet, wissen Sie? Ein unverträgliches Leben. Monsieur steht jeden Tag zur selben Stunde auf. Ich allein, und weiter niemand, sehen Sie, darf in sein Zimmer. Ich öffne um sieben Uhr die Tür, im Sommer wie im Winter. Das ist ein für allemal festgelegt. Nach dem Eintreten sage ich: Monsieur le Marquis, Sie müssen aufwachen und sich ankleiden. Schön, er wacht auf und kleidet sich an. Ich muß ihm seinen Hausrock geben, der immer nach demselben Schnitt und aus demselben Stoff gemacht ist. Ist er abgetragen, so habe ich für einen neuen zu sorgen, nur um ihn der Mühe zu entheben, einen neuen zu verlangen. Man stelle sich das einmal vor! Allerdings hat er auch 1000 Francs täglich zu verzehren, der liebe Junge kann tun, was er will. Und übrigens habe ich ihn so lieb, ich würde ihm die linke Backe hinhalten, wenn er mir eine Backpfeife auf die rechte gäbe! Er könnte mir noch viel schwierigere Dinge auftragen, ich würde alles tun, verstehen Sie? Und dann habe ich so viel Kleinkram für ihn zu erledigen, daß ich kaum weiß, wo mir der Kopf steht. Also nicht wahr, er liest Zeitungen? Laut Befehl habe ich sie auf ein und dieselbe Stelle auf ein und denselben Tisch zu legen. Ich muß ihn auch in eigener Person und stets zur nämlichen Stunde rasieren und zittere dabei nicht im geringsten. Der Koch würde 1000 Taler Leibrente verlieren, die ihn nach dem Tod von Monsieur erwarten, wenn das Frühstück nicht unweigerlich jeden Morgen Punkt zehn Uhr und das Diner Punkt fünf Uhr auf dem Tische ständen. Der Speiseplan ist für das ganze Jahr festgelegt, Tag für Tag. Monsieur le Marquis bleibt nichts zu wünschen übrig. Er hat Erdbeeren, wenn es Erdbeeren gibt, und die erste Makrele, die in Paris ankommt, ißt er. Das Menü ist gedruckt, er weiß am Morgen auswendig, was er zum Diner bekommt. Ferner kleidet er sich zur nämlichen Stunde mit den nämlichen Kleidern, der nämlichen Wäsche, die ich immer – verstehen Sie? – auf den nämlichen Sessel lege. Ich habe auch dafür zu sorgen, daß er immer dasselbe Tuch hat, notfalls, wenn beispielsweise sein Rock schäbig wird, muß ich einen neuen dafür hinlegen und darf kein Wort darüber verlieren. Ist es schönes Wetter, so gehe ich hinein und sage zu meinem Herrn: »Sie sollten ausfahren, Monsieur le Marquis!« Er antwortet ja oder nein. Will er aber spazierenfahren, so wartet er nicht auf seine Pferde, sie sind immer angespannt; der Kutscher sitzt unweigerlich mit der Peitsche in der Hand, wie Sie ihn da sehen. Abends nach dem Diner fährt der Monsieur einmal in die Oper und ein andermal zu den Ital … aber nein, bei den Italienern war er noch nicht, ich habe mir erst gestern eine Loge verschaffen können. Um elf Uhr pünktlich kommt er nach Hause und legt sich schlafen. Während der Zwischenzeiten am Tag, wo er nichts zu tun hat, liest er; er liest immerzu, sehen Sie! Das ist so seine fixe Idee! Ich habe Befehl, vor ihm das »Journal de la Librairie« zu lesen und die neuen Bücher zu besorgen, damit er sie am Tage des Erscheinens auf seinem Kamin liegen hat. Weiterhin bin ich gehalten, stündlich zu ihm hineinzugehen, um nach dem Feuer, nach allem zu schauen und darauf zu achten, daß nichts fehlt. Er hat mir ein kleines Buch zum Auswendiglernen gegeben, Monsieur, wo alle meine Pflichten drinstehen, ein kleiner Katechismus! Im Sommer muß ich mit großen Eisblöcken die Temperatur immer gleichmäßig kühl halten und jederzeit überall frische Blumen aufstellen. Er ist reich! Er hat 1000 Francs täglich zu verzehren, er kann seinen Launen nachgehen. Lange genug hat der arme Junge sogar das Notwendigste entbehrt. Er quält niemanden, er ist gut wie das tägliche Brot, nie sagt er ein einziges Wort, und Sie sehen: völliges Schweigen im Haus und im Garten! Kurz, mein Herr braucht keinen einzigen Wunsch zu äußern, alles läuft am Schnürchen und exakt! Er hat auch ganz recht: wenn man die Dienerschaft nicht kurzhält, geht alles drunter und drüber. Ich sage ihm alles, was er tun muß, und er hört auf mich. Sie können sich kaum vorstellen, wie weit er das getrieben hat. Seine Gemächer sind in einer … einer … na, wie denn nun? … in einer Flucht, will ich sagen. Aber macht er nun, sagen wir einmal, die Tür seines Schlafzimmers oder seines Studierzimmers auf, … krach! öffnen sich alle Türen von selbst durch einen Mechanismus. Sehen Sie, so kann er in seinem Haus von einem Zimmer zum anderen gehen und braucht keine einzige Tür zu öffnen. Das ist bequem und praktisch und sehr angenehm für uns! Aber das hat uns einen Batzen

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