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den Mann, dem er sein Unglück verdankte. In diesem Augenblick lachte dieser phantastische Alte ein lautloses Lachen, das sich auf seinen blutleeren Lippen abzeichnete, hinter denen ein falsches Gebiß sichtbar war. Bei diesem Lachen entdeckte Raphaels lebhafte Phantasie die frappierende Ähnlichkeit dieses Gesichts mit dem Typus des Kopfes, den die Maler Goethes Mephistopheles gegeben haben. Tausend abergläubische Vorstellungen bemächtigten sich Raphaels starker Seele, auf einmal glaubte er an die Macht des Teufels, an all die Hexenkünste, die in den Legenden des Mittelalters überliefert und von den Dichtern aufgegriffen worden sind. Ihn schauderte vor dem Schicksal Fausts, er rief den Himmel an, denn den Sterbenden gleich erfüllte ihn plötzlich ein glühender Glaube an Gott und die Jungfrau Maria. Ein strahlendes Licht ließ ihn den Himmel Michelangelos und Raffaels schauen: Wolkengebilde, einen alten Mann mit weißem Bart, Engelsköpfe, eine schöne Frau, von einem Heiligenschein umgeben. Jetzt begriff er diese wunderbaren Schöpfungen und machte sie sich zu eigen, da ihre geradezu menschlichen Phantasien ihm sein Abenteuer deuteten und ihm noch eine Hoffnung ließen. Als er aber seine Augen wieder ins Foyer der Oper senkte, erblickte er anstelle der Heiligen Jungfrau ein reizendes Mädchen, die verdorbene Euphrasie, die Tänzerin mit dem biegsamen und graziösen Körper, die, in einem strahlenden, mit orientalischen Perlen überladenen Gewand ungeduldig auf ihren ungeduldigen Greis zuschritt und sich mit kecker Stirn und blitzenden Augen dreist dieser neidisch lauernden Gesellschaft präsentierte, um den grenzenlosen Reichtum des Händlers zu bezeugen, dessen Schätze sie verschwendete. Raphael entsann sich des spöttischen Wunsches, mit dem er das verhängnisvolle Geschenk des Alten angenommen hatte, und genoß alle Wonnen der Rache, da er nun die tiefe Erniedrigung dieser erhabenen Weisheit sah, deren Sturz noch vor kurzem unmöglich schien. Das Grabeslächeln des Hundertjährigen war an Euphrasie gerichtet, die es mit einem Liebeswort erwiderte; er bot ihr seinen Knochenarm, machte zwei- oder dreimal die Runde um das Foyer, empfing selig die leidenschaftlichen Blicke und die Komplimente, welche die Menge seiner Geliebten zuwarf, ohne das verächtliche Lachen und den beißenden Spott zu bemerken, dessen Gegenstand er war.

      »Auf welchem Kirchhof hat dieser junge Vampir den Leichnam ausgescharrt?« rief der eleganteste der Romantiker.

      Euphrasie lächelte. Der Spötter war ein schlanker junger Mann mit blonden Haaren, blauen, strahlenden Augen und einem Schnurrbart; er trug einen kurzen Frack, den Hut auf dem Ohr, war nicht auf den Mund gefallen: ganz die Sprache der neuen Schule.

      »Wie viele Greise«, sagte sich Raphael im stillen, »krönen ein ehrbares, arbeitsames, tugendhaftes Leben mit einer Torheit! Der steht schon mit den Füßen im Grab und hält sich eine Geliebte.«

      »Nun, wie ist es?« rief er den Händler an und liebäugelte mit Euphrasie; »erinnern Sie sich nicht mehr der strengen Grundsätze Ihrer Philosophie?«

      »Ach«, antwortete der Händler mit schon gebrochener Stimme, »ich bin jetzt glücklich wie ein Jüngling! Ich hatte das Leben verkehrt angefangen. In einer Liebesstunde liegt ein ganzes Leben.«

      In diesem Augenblick ertönte das Klingelzeichen, und die Zuschauer verließen das Foyer, um sich auf ihre Plätze zu begeben. Der Alte und Raphael trennten sich. Als der Marquis in seine Loge trat, bemerkte er Fœdora, die ihm gerade gegenüber auf der anderen Seite des Theaters saß. Sie war offenbar eben erst gekommen, löste ihren Schal, entblößte den Hals und vollführte all die unbeschreiblichen kleinen Bewegungen einer Kokotte, die sich zur Schau stellt: alle Blicke waren auf sie gerichtet. Ein junger Pair von Frankreich begleitete die Comtesse; sie ließ sich von ihm das Opernglas reichen, das sie ihm zu tragen gegeben hatte. An ihren Gesten, an der ganzen Art, wie sie den neuen Verehrer ansah, erriet Raphael, welcher Tyrannei sein Nachfolger unterworfen war. Sicher ebenso bezaubert, ebenso betrogen wie einst er selber und wie er mit der ganzen Kraft einer wahren Liebe gegen die kalten Berechnungen dieser Frau ankämpfend, mußte dieser junge Mann Qualen erleiden, auf die Valentin zu seinem Glück verzichtet hatte. Nachdem Fœdora ihr Opernglas auf alle Logen gerichtet und mit einem Blick die Toiletten gemustert hatte, strahlte unbeschreibliche Freude aus ihrem Gesicht; denn sie hatte sich vergewissert, daß sie mit ihrem Schmuck und ihrer Schönheit die schönsten und elegantesten Frauen von Paris ausstach; sie lachte, um ihre weißen Zähne zu zeigen, und neigte ihren blumengeschmückten Kopf lebhaft, um sich bewundern zu lassen. Ihr Blick glitt von Loge zu Loge; mal machte sie sich über ein Barett lustig, das schlecht auf dem Kopf einer russischen Fürstin saß, mal über einen geschmacklosen Hut, der einer Bankierstochter abscheulich schlecht stand. Plötzlich wurde sie blaß, sie war den starren Augen Raphaels begegnet; ihr verschmähter Liebhaber schmetterte sie mit einem unerträglichen Blick der Verachtung nieder. Keiner ihrer in Ungnade gefallenen Liebhaber entzog sich ihrer Macht, nur Raphael war, als einziger von allen, gegen ihre Verführungskünste gefeit. Eine Macht, der man ungestraft trotzen kann, nähert sich dem Untergang. Dieser Grundsatz ist in ein Frauenherz tiefer eingegraben als in das Hirn der Könige. So sah denn Fœdora in Raphael das Ende ihres Ruhms und ihrer Koketterie. Ein Wörtchen, das er gestern in der Oper hatte fallenlassen, war in sämtlichen Pariser Salons von Mund zu Mund gegangen. Der schneidende Witz dieses furchtbaren Epigramms hatte die Comtesse unheilbar verletzt. Wir können in Frankreich zwar eine Wunde ausbrennen, aber wir kennen noch kein Heilmittel gegen den Schaden, den ein Wort anrichtet. In dem Augenblick, da alle Frauen abwechselnd auf den Marquis und auf sie blickten, hätte Fœdora ihn in ein Verlies der Bastille stürzen mögen; denn trotz all ihrer Verstellungskunst, die Rivalinnen errieten, wie sie litt. Und schließlich wurde sie ihres letzten Trostes beraubt. Die köstlichen Worte: »Ich bin die Schönste!«, dieser ewige Satz, der alle Kümmernisse ihrer Eitelkeit besänftigte, fing an zur Lüge zu werden. Während des Vorspieles zum zweiten Akt nahm eine Frau in Raphaels Nähe Platz, in der Nachbarloge, die bis dahin leer geblieben war. Aus dem Parterre drang ein Murmeln der Bewunderung. Alle Augen und alle Sinne in diesem Meer von menschlichen Gesichtern waren auf die Unbekannte gerichtet. Jung und alt gerieten in eine so lang anhaltende Unruhe, daß die Musiker im Orchester sich, während der Vorhang hochging, erst einmal umdrehten, um Schweigen zu gebieten; aber auch sie brachen in beifällige Rufe aus und vermehrten so den wirren Lärm. Lebhafte Unterhaltung setzte in jeder Loge ein. Die Frauen hatten sich alle mit ihren Operngläsern bewaffnet, Greise wurden wieder jung und putzten mit dem Leder ihrer Handschuhe die Lorgnetten. Allmählich flaute die Begeisterung ab; auf der Bühne begann der Gesang; alles kehrte zur Ordnung zurück. Die gute Gesellschaft schämte sich, einer natürlichen Regung nachgegeben zu haben, und nahm wieder die aristokratische Kälte ihrer höfischen Manieren an. Die Reichen wollen über nichts staunen, sie wollen beim ersten Anblick eines schönen Werks den Fehler entdecken, der sie der Bewunderung – einem niederen Empfinden – enthebt. Indessen blieben doch einige Männer reglos, ohne die Musik zu hören, in naiver Bewunderung verloren und hörten nicht auf, Raphaels Nachbarin zu betrachten. Valentin bemerkte in einer Parterreloge neben Aquilina das gemeine, blutunterlaufene Gesicht Taillefers, der ihm wohlwollend zugrinste. Dann sah er Émile, der in seiner Orchesterloge stand und ihm zu sagen schien: »Aber sieh doch das himmlische Geschöpf neben dir an!« Schließlich entdeckte er noch Rastignac, der neben Madame de Nucingen und ihrer Tochter saß und die Handschuhe unruhig in der Hand ballte, als sei er verzweifelt, an seinen Platz gebannt zu sein und nicht zu der entzückenden Unbekannten eilen zu können. Raphaels Leben hing von einem Pakt ab, den er mit sich selbst geschlossen und bis jetzt noch nicht verletzt hatte: er hatte sich gelobt, niemals ein weibliches Wesen aufmerksam anzusehen; und um sich vor jeder Versuchung zu schützen, benutzte er ein Opernglas, dessen Gläser so kunstvoll geschliffen waren, daß es die Harmonie der schönsten Züge zerstörte und ihnen ein häßliches Aussehen gab. Raphael stand noch unter dem Eindruck des Entsetzens, das ihn heute morgen ergriffen hatte, als sich der Talisman auf einen bloß aus Höflichkeit geäußerten Wunsch unverzüglich zusammengezogen hatte, und war fest entschlossen, sich nicht nach seiner Nachbarin umzuwenden. Er saß da wie eine Herzogin, mit dem Rücken gegen die Ecke seiner Loge und nahm der Unbekannten rücksichtlos den halben Ausblick auf die Bühne, geradeso, als wäre sie für ihn Luft, als wüßte er gar nicht, daß eine schöne Frau hinter ihm saß. Die Nachbarin ahmte Valentins Stellung genau nach. Sie hatte ihren Ellbogen auf die Brüstung der Loge gestützt und wandte den Kopf zu drei Vierteln den Sängern zu; es sah aus, als säße sie einem Maler. Die beiden glichen zwei verzankten Liebenden, die schmollen, sich den Rücken zukehren und sich beim ersten Liebeswort wieder um den Hals fallen. Manchmal streiften die leichten Marabufedern oder die Haare der Unbekannten Raphaels

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