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gestern abend fühlte sie sich mit Charles durch alle glücklichen Bande verknüpft, die die Seelen aneinander zu fesseln vermögen; von heute ab sollte das Leid diese Bande verdoppeln! Ist es nicht die edle Bestimmung der Frau, von der Wucht des Elends tiefer ergriffen zu werden als von der Macht des Glücks? Wie konnte ihr Vater so wenig väterlich fühlen? Welchen Verbrechens war Charles denn schuldig? Geheimnisvolle, unergründliche Fragen! Schon wurde ihre Liebe, dieser Abgrund von Mysterien, in Mysterien gehüllt. Endlich fand sie zitternd ihre Ruhe wieder, und als sie in die alte düstere Straße zurückkehrte, in der sie bislang so froh gewesen war, fand sie diese nun traurig: sie atmete fast die Schwermut, die Zeit und Ereignisse ihr aufgedrückt hatten.

      Einige Schritte vom Hause entfernt eilte sie ihrem Vater voraus und erwartete ihn, nachdem sie ans Tor gepocht hatte. Aber Grandet, der in den Händen des Notars eine noch unter Kreuzband befindliche Zeitung wahrgenommen hatte, sagte zu diesem: »Wie stehen die Staatspapiere?«

      »Sie wollen mir ja nicht folgen, Grandet«, antwortete ihm Cruchot. »Kaufen Sie schnell; noch können in zwei Jahren zwanzig Prozent gewonnen werden, abgesehen von den sehr hohen Zinsen. Achtzigtausend Francs würden fünftausend Francs Rente bringen. Die Papiere stehen jetzt auf achtzig Francs fünfzig.«

      »Wir werden sehen«, entgegnete Grandet, sich das Kinn reibend.

      »Mein Gott!« sagte plötzlich der Notar, der die Zeitung auseinandergefaltet hatte.

      »Nun, was gibt’s?« rief Grandet im selben Augenblick, als Cruchot ihm das Blatt vor die Nase hielt und sagte: »Lesen Sie diesen Artikel!«:

      ›Monsieur Grandet, einer der geachtetsten Großhändler von Paris, hat sich gestern erschossen, nachdem er wie gewöhnlich auf der Börse erschienen war. Er hatte an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses seine Demission geschickt und gleicherweise sein Amt als Handelsrichter niedergelegt. Das Fallissement der Messieurs Roguin und Souchet, seines Bankiers und seines Notars, haben ihn ruiniert. Die Achtung, deren Monsieur Grandet sich erfreute, und sein Kredit waren dessenungeachtet so, daß er zweifellos am Platze Unterstützung gefunden hätte. Es ist zu bedauern, daß der verdienstvolle Mann ein Opfer augenblicklicher Mutlosigkeit geworden ist . . .‹

      »Ich wußte das«, sagte der Winzer.

      Das Wort machte den Notar Cruchot frösteln; denn trotz seiner Kaltblütigkeit als Notar rann ihm ein eisiger Strom durch den Körper bei dem Gedanken, der Grandet von Paris habe vielleicht bei den Millionen des Grandet von Saumur vergebens um Hilfe gefleht.

      »Und sein Sohn, der gestern so fröhlich war . . .?«

      »Er weiß noch nichts«, antwortete Grandet mit derselben Ruhe.

      »Adieu, Monsieur Grandet«, sagte Cruchot, der nun alles begriff und Eile hatte, den Präsidenten de Bonfons aufzuklären.

      Als Grandet heimkam, fand er das Frühstück bereit.

      Eugénie fiel der Mutter mit all der Zärtlichkeit um den Hals, die bei jungen Mädchen der Ausdruck geheimen Kummers ist. Madame Grandet saß bereits auf ihrem erhöhten Sitz am Fenster und strickte an wollenen Pulswärmern für den Winter.

      »Sie können essen«, sagte Nanon, die – immer vier Stufen auf einmal – die Treppe herunterspang; »das Kind schläft wie ein Engel. Wie hübsch er so ist, mit geschlossenen Augen! Ich bin hineingegangen und habe ihn angerufen. Jawohl! Er rührte sich nicht!«

      »Laß ihn schlafen«, sagte Grandet; »er kommt heute noch immer früh genug, um schlimme Botschaft zu vernehmen.«

      »Was gibt's denn?« fragte Eugénie, ihren Kaffee mit den vorgeschriebenen zwei Stückchen Zucker süßend, die kaum ein paar Gramm wogen und die Monsieur Grandet in seinen Mußestunden selber zuschnitt.

      Madame Grandet, die nicht gewagt hatte, diese Frage zu stellen, blickte ihren Gatten an.

      »Sein Vater hat sich erschossen.«

      »Mein Onkel? . . .« sagte Eugénie.

      »Der arme junge Mann!« rief Madame Grandet aus.

      »Ja, arm!« wiederholte Grandet; »er besitzt nicht einen Sou mehr.«

      »Nun, er schläft, als sei er der Herr der Erde«, bemerkte Nanon sanft.

      Eugénie konnte nicht essen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Das Mitgefühl mit dem Unglück dessen, den sie liebt, wird eine Frau immer auch körperlich ergreifen. Das junge Mädchen weinte.

      »Du hast deinen Onkel doch gar nicht gekannt, weshalb weinst du?« sagte ihr Vater und warf ihr einen flammenden Blick zu – den lauernden Tigerblick, mit dem er wohl auch sein Gold anblitzte.

      »Aber, Monsieur«, sagte die Magd, »wer wird nicht Mitleid haben mit dem armen jungen Mann, der sein Schicksal noch gar nicht ahnt, sondern schläft wie ein Murmeltier?«

      »Ich habe nicht mit dir gesprochen, Nanon, halt den Mund.«

      Eugénie erfuhr und lernte jetzt, daß das liebende Weib seine Gefühle verbergen muß. Sie gab keine Antwort.

      »Ich erwarte, Madame Grandet, daß Sie ihm nichts davon sagen, bis ich wieder zu Hause bin«, fuhr der Alte fort. »Ich muß zu meinen Wiesen hinunter und die Anlegung eines Grabens beaufsichtigen. Zum zweiten Frühstück bin ich wieder hier, und dann werde ich mit meinem Neffen von seinen Angelegenheiten sprechen. – Was dich betrifft, Eugénie, wenn es dieser Laffe ist, für den deine Tränen fließen, so laß es nun genug sein, mein Kind. Er wird fortreisen – nach Indien. Du wirst ihn nicht wiedersehen . . .«

      Der Vater nahm seine Handschuhe, die wie immer auf dem Hutrand lagen, zog sie mit gewohnter Ruhe an und schob sie fest, indem er die gespreizten Finger beider Hände ineinanderdrückte; dann ging er.

      »Ach, Mama, ich ersticke!« rief Eugénie, als sie mit ihrer Mutter allein war. »Ich habe noch nie einen solchen Schmerz gefühlt!«

      Madame Grandet, die ihre Tochter erbleichen sah, öffnete das Fenster und ließ sie die frische Luft einatmen. »Ich fühle mich besser«, sagte Eugénie nach einem Weilchen.

      Diese nervöse Aufregung bei einer sonst ruhigen und kühlen Natur machte auf Madame Grandet Eindruck. Mit dem verständnisvollen Mitgefühl, das alle Mütter für den Gegenstand ihrer Zärtlichkeit empfinden, blickte sie auf ihre Tochter – und erriet alles. Denn in Wahrheit: das Leben jener weltberühmten ungarischen Zwillingsschwestern, die durch einen Irrtum der Natur aneinandergefesselt waren, konnte nicht inniger gewesen sein als das Leben Eugénies und ihrer Mutter, die immer zusammen in dieser Fensternische saßen, zusammen in die Kirche gingen und selbst im Schlaf dieselbe Luft einatmeten.

      »Mein armes Kind!« sagte Madame Grandet und drückte Eugénies Kopf an ihre Brust.

      Bei diesen Worten blickte das junge Mädchen forschend auf, prüfte die geheimen Gedanken der Mutter und sagte: »Warum ihn nach Indien schicken? Muß er nicht hier bei uns bleiben, wenn er unglücklich ist? Ist er nicht unser allernächster Verwandter?«

      »Ja, mein Kind, das wäre gewiß das Natürliche; aber dein Vater hat seine Gründe, wir müssen sie respektieren.«

      Mutter und Tochter setzten sich schweigend wieder hin, die eine auf ihren erhöhten Sitz, die andere in ihren kleinen Sessel; und alle beide nahmen die Arbeit wieder auf. Überwältigt von Dankbarkeit für die unerschöpfliche Herzensgüte ihrer Mutter, küßte Eugénie ihr die Hand und sagte: »Wie gut du bist, liebe Mama!«

      Diese Worte ließen das kummermüde Gesicht der alten Mutter aufstrahlen.

      »Gefällt er dir gut?« fragte Eugénie. Madame Grandet antwortete nur mit einem Lächeln; dann, nach kurzem Schweigen, fragte sie mit leiser Stimme: »Liebst du ihn denn schon? Das wäre schlimm!«

      »Schlimm?« entgegnete Eugénie. »Weshalb? Er gefällt dir, er gefällt Nanon, weshalb sollte er mir nicht gefallen? Komm, Mama, wir wollen ihm den Frühstückstisch decken.«

      Sie warf ihre Näharbeit hin; die Mutter tat desgleichen, aber sie sagte noch: »Du bist toll!« Dennoch rechtfertigte sie die Tollheit der Tochter, indem sie sie unterstützte.

      Eugénie rief Nanon herbei.

      »Was wollen Sie noch, Mademoiselle?«

      »Nanon,

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