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seidenes Tuch und winkte. Georg Isenbrandt sprang mit plötzlichem Entschluß auf das Trittbrett des rollenden Zuges. Er beugte sich zu Maria Feodorowna, flüsterte ihr wenige Worte zu und war mit einem Sprunge wieder neben seinem Freunde. Dort stand er und blickte dem ausfahrenden Zuge noch lange nach.

      Der Knall des Schusses, der den Kaiser des Himmlischen Reiches auf das Schmerzenslager warf, war bis in die letzten Erdenwinkel gedrungen. Immer noch, bald schwächer, bald stärker, hallte sein Echo wider. Millionen Herzen erbebten … bebten … wie immer, wenn das Schicksal einen ganz Großen unter den Menschen traf, von dessen Sein oder Nichtsein dasjenige von Millionen Kleiner abhing. Und je länger die Zeit des Wartens, desto unerträglicher wurde die Spannung.

      Wann endlich Gewißheit? Würde er sterben … der Große, oder leben bleiben und sein großes Werk vollenden?

      Die Bulletins der Ärzte waren dunkel wie die Sprüche des delphischen Orakels. Ein dreifaches enges Gitter von Bajonetten umgab jetzt, nachdem das Unheil geschehen war, die Anlagen von Schehol, dem chinesischen Sanssouci.

      Wie alljährlich, hatte sich der Herrscher auch diesmal zu Wintersausgang nach Schehol begeben, um hier Erholung von der Last der Regierungsgeschäfte zu suchen. Hier, wo die strenge Bewachung seiner Person nicht so scharf wie in Peking durchgeführt wurde, hatte ihn die Kugel eines als Jägerbursche verkleideten Republikaners getroffen.

      Der Schuß war tödlich. So lautete der Bericht der Ärzte für die wenigen Vertrauten der nächsten Umgebung. Aber die Lage des Reiches verbot eine Veröffentlichung dieses Berichtes.

      Kaum zwanzig Jahre waren vergangen, seitdem der junge, tatkräftige Mongolengeneral Kubelai die Herrschaft des Riesenreiches an sich gerissen hatte. Bis dahin war China eine Republik, deren beste Kräfte durch nie zur Ruhe kommende Wirren aufgezehrt wurden. Eine Riesenfarm, die von den Völkern des Abendlandes nach Möglichkeit ausgenutzt wurde.

      Auf schneller, blutiger Bahn war der Mongolenkhan an die Spitze des Riesenreiches geeilt, alles niederwerfend, was sich ihm in den Weg stellte. Dann hatte er das Spiel gespielt, das von jeher jedem Usurpator geläufig war. Um seine Herrschaft zu festigen, wurde das chinesische Nationalbewußtsein mit allen Mitteln einer geschickten Diplomatie aufgepeitscht, bis alle Augen gegen den äußeren Feind gerichtet waren.

      Und wieder hatte ihm das Glück zur Seite gestanden. In zähem Ringen hatte er den Europäern eine Position nach der anderen entrissen, bis er das Land von den »Bedrückern«, den »Blutsaugern« befreit hatte. In der kurzen Zeit von zehn Jahren hatte er dieses Ziel erreicht. Mit der gleichen Energie und Tatkraft widmete er sich dann dem Ausbau der inneren wirtschaftlichen Kräfte seines Landes. Wohl schufen ihm die Reformen, die er ohne Rücksicht auf die alten Sitten und Gewohnheiten durchführte, viele Gegner. Doch die mußten sich beugen, und in einem halben Menschenalter war ein Werk vollbracht, um das führende Geister sich jahrhundertelang vergeblich bemühten, das Kenner des Landes für unmöglich gehalten hatten.

      Mit seinen Erfolgen wuchs sein Ehrgeiz ins Unermeßliche. Träume wurden in rastloser Gehirnarbeit geformt, bis sie als erreichbare Möglichkeiten vor seinem Auge standen, und dann schuf er die Pläne zu ihrer Verwirklichung.

      Schon bevor die Europäische Siedlungsgesellschaft ihre Tätigkeit in Turkestan begann, hatte sich sein Auge auf diese Gebiete gerichtet, die ja größtenteils von mongolischen Brüdern bewohnt waren. Doch damals schien ihm der mögliche Gewinn den Preis der hohen Opfer nicht wert.

      Erst als die Pläne der Siedlungsgesellschaft bekannt wurden, Pläne, die dort ein großes, weißes Kulturland zu schaffen versprachen, erschienen ihm jene Länder begehrenswert. Um so begehrenswerter, je größer die Erfolge der Siedlungsgesellschaft wurden.

      Ein neues Schlagwort war bald gefunden: Panmongolismus! Vereinigung aller Gelben mit dem großen Himmlischen Reich. Schnell wurde es aufgenommen. Bald war eine rege Irredenta in den bis dahin politisch völlig indifferenten Gegenden im Gange.

      Die gelben Emissionäre fanden einen Boden, dessen Bearbeitung ihnen die Siedlungsgesellschaft selbst notgedrungen sehr erleichterte. Da die dort ansässigen mongolischen Stämme durch die europäischen Siedler in ihrer Nomadenwirtschaft gehindert oder gar verdrängt wurden, gab es Unzufriedene genug. Die öffentliche Meinung Chinas forderte täglich mehr oder weniger laut das Vorgehen der Regierung. Das diplomatische Spiel hatte bereits begonnen, zum mindesten waren die Karten dazu gemischt … da krachte der verhängnisvolle Schuß.

      Über den Gärten von Schehol lag eine milde Frühlingssonne. Sie vergoldete die Mauern der Schlösser und Tempel und ließ deren glasierte Ziegel in allen Farben erglänzen.

      Auf einer weiten Dachterrasse des Palastes, deren Rand mit blühenden Kirschbäumen in großen Bronzekübeln besetzt war, stand das niedere Lager, auf dem der Kaiser ruhte. Auf den weißen Seidenkissen wirkte das Antlitz, nur von unten her ein wenig von dem Blutrot der Seidendecke angestrahlt, wie das eines Toten. Die Stirn des Kranken war kahl, steil und gefurcht wie ein zerhauener Helm.

      Die Blicke des Kaisers hingen starr am Horizont. Dort hinten … hinter den Schneegipfeln des Thian-Schan lag das Reich seiner Feinde, der Westländischen.

      Lebensgier und Drang des Lebendigen zerrten an ihm. Für China leben … leben für die Flut der Aufgaben, die ihn ein halbes Menschenalter bedrängt hatten, die zu erfüllen ihm jetzt nur noch Stunden blieben. Noch klammerte er sich mit schwachen Händen an das Strauchwerk, schon unter sich den Abgrund. Sein stählerner Körper, von Tatenlust durchglüht, so lange das vollkommene Werkzeug einer übermenschlichen Arbeit, war jetzt durch zehrendes Wundfieber gebrochen.

      Die Lippen des todkranken Kaisers murmelten die Worte, die einst Wischnu in seiner achten Inkarnation als Gott Krischna sprach. Jene Worte, die das Leitmotiv seines Lebens gewesen waren: »Stehe auf und kämpfe mit einem entschlossenen Herzen, gleichgültig gegen Lust und Schmerz, gegen Gewinn und Verlust, gegen Sieg und Niederlage. Kämpfe mit allen deinen Kräften.«

      Kampf war sein Leben von frühester Jugend an gewesen. Nun stand vor ihm der Kampf, der den Traum so vieler Jahrhunderte, den Traum von dem alle Mongolen umfassenden einheitlichen Reich zur Erfüllung bringen sollte.

      Ein leichter Glanz belebte die starr blickenden Augen. Wie sie ihn fürchteten … da drüben hinter den Mauern des Himmelsgebirges!

      Und jetzt? … Wie würden sie frohlocken, wenn er tot …

      Er stöhnte unterdrückt in abgebrochenen Lauten. Seine Hand tastete nach einer Schale mit goldenen Kugeln und ließ eine davon in ein klingendes Bronzebecken fallen. Hinter einem seidenen Vorhang wurde ein Diener sichtbar.

      »Toghon-Khan!«

      Seit er die Gewißheit hatte, daß er sterben müsse, hatte er sie zu sich gerufen … die Großen seines Landes … einen Starken zu finden, der für seinen unmündigen Sohn das große Reich leiten und schützen könne.

      Und alle hatte er wieder weggehen lassen, als zu leicht befunden. Keiner darunter, der würdig war, den Ring zu tragen, dessen schweres Gold den Mittelfinger der kaiserlichen Rechten umschloß.

      Ein einziger noch … der letzte, der in Frage kam. Schanti, der Herr von Dobraja und Aksu. Nicht nur ein tüchtiger General, sondern auch ein hervorragender Staatsmann, hatte er es in zäher Energie verstanden, hinter das Geheimnis des Schmelzpulvers der Weißen zu kommen. Zwar war es ihm noch nicht gelungen, Arbeiten in so großzügiger Weise auszuführen, wie sie die Europäische Siedlungsgesellschaft in Russisch-Turkestan betrieb, doch war immerhin ein viel verheißender Anfang gemacht.

      Aber würde Toghon-Khan auch der gewaltigen Aufgabe gewachsen sein, die ihm die Regentschaft über das ganze Riesenreich bringen mußte? … Würde er dem schweren Kampf mit dem Abendlande aus dem Wege gehen? … Würde er ihn annehmen und … unterliegen?

      Wieder ließ der Kaiser eine Kugel in die klingende Schale fallen. Die seidenen Vorhänge rauschten auseinander, und ein Mann in Generalsuniform trat auf die Terrasse. Ein markantes Gesicht. Der kahle Schädel lud in eine niedere, vorspringende Stirn aus. Die dunklen, kleinen Augen rollten in tiefen, gelben Höhlen. Um die Brauen war die Haut in ein Gewebe tiefer, verwirrter Runzeln gefaltet. Das ganze Äußere zeugte für ein glutvolles

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