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verlassen, nicht zurückkehren können. Leben Sie wohl, Maria Feodorowna. Wir sehen uns bald wieder … bald.«

      Einen kurzen Moment ruhten ihre Blicke ineinander, ihre Finger umschlossen sich zu festem Druck. Dann war er hinausgeschritten.

      *

      Vor einem mit Plänen bedeckten Tisch saß General Bülow, neben ihm der russische Oberst Popoff. Wie zwei Schachspieler bewegten sie kleine, bunte Nadelfähnchen auf den Karten hin und her. Ihr lebhafter Disput bewies, daß sie sich über die endgültige Stellung der Fähnchen keineswegs einig waren.

      Seitdem die Lage an der chinesischen Grenze sich zuzuspitzen begann, hatte das Hauptquartier in Petersburg den Obersten mit einigen anderen Offizieren dem Generalstabe der E. S. C. Truppen attachiert. Für den Kriegsfall unterstanden die militärischen Streitkräfte der E. S. C. dem vereinigten europäischen Oberkommando.

      Der früher so lange Zeit hindurch als Ideologie abgetane Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa war unter dem Druck der Weltgeschehnisse wenigstens zu einem Teil verwirklicht worden. Zwar war kein Staatsgebilde im Sinne der amerikanischen Union zustande gekommen. Aber die Solidarität der europäischen Völker fand bei voller Wahrung der nationalen Selbständigkeiten und Eigenarten wenigstens dadurch Ausdruck, daß bei Fragen der großen Weltpolitik nicht jeder einzelne kleine Staat, sondern Europa als geschlossenes Ganzes auftrat und handelte.

      Hinter den Kulissen war freilich ein steter Kampf um die Stellung des primus inter pares. Rußland glaubte in erster Linie Anspruch darauf zu haben. Dabei kam ihm zustatten, daß der Schwerpunkt der militärischen Angelegenheiten in Petersburg lag, da Rußland mit Rücksicht auf sein großes Gebiet und dessen historisch providentielle Lage gegen Osten die numerisch größte Heeresmacht unterhielt.

      Schon unter dem Kommando des Generals Effingham war das Verhältnis zum Petersburger Hauptquartier nicht reibungslos gewesen. Der temperamentvolle Bülow war fast ständig auf Kriegsfuß mit dem Oberkommando. Dessen Anordnungen erfolgten stets unter dem Gesichtspunkt, unbedingt die sibirischen Grenzen zu schützen, während Bülow in erster Linie darauf bedacht war, die turkestanische Grenze zu sichern.

      Für Rußland waren die gewaltigen Gruben- und Industrieanlagen im Gebirgsstock des Altai von größter Wichtigkeit. Ihre Vernichtung durch etwa plötzlich vorstoßende Luftstreitkräfte der Gelben war daher mit allen Mitteln zu verhindern. Die starken Kriegsgeschwader Rußlands waren deshalb nach den Anordnungen des Petersburger Oberkommandos ausschließlich zur Sicherung der sibirischen Südgrenze angesetzt und nur die schwächeren Geschwader der anderen europäischen Staaten zur Verteidigung der turkestanischen Grenzen bestimmt.

      Gegen diese Kräfteverteilung kämpfte Bülow schon seit langem. Immer wieder versuchte er es durchzusetzen, daß die Hauptkräfte auf die turkestanische Linie konzentriert wurden.

      Die Gebirgszüge des Thian-Schan, Alatau und Tarbagatai boten an sich eine gewaltige, kaum überschreitbare Schutzmauer. Jedoch nur so lange, als es gelang, die drei Durchgangspforten abzuriegeln. Der Übergang von Kaschgarien nach Ferghana war verhältnismäßig leicht durch Sprengung der Kunstbauten an der Gebirgsbahn Kaschgar–Osch zu sperren. Viel größere Schwierigkeiten bot die dsungarische Pforte, jenes Tor, durch das sich schon einmal im Mittelalter die mongolischen Schwärme über Europa ergossen hatten. Der dritte gefährliche Punkt aber blieb die chinesische Angriffsbastion, das Ilidreieck.

      Ein großartig angelegtes Bahnnetz, das von Chami aus strahlenförmig zur Grenze führte, gab hier den Gelben Gelegenheit, ihren Nachschub schnellstens durch die offenen Pässe zu leiten.

      Der Kirgisenaufstand im Siedlungsgebiete hatte Europa notgedrungen den Anlaß gegeben, seine Streitkräfte im Osten zu verstärken. Während die russischen Abteilungen in Sibirien in volle Bereitschaft gebracht wurden, sammelten sich jenseits des Urals Teile der vereinigten westeuropäischen Heere.

      Aber die immer noch divergierenden Einflüsse der verschiedenen europäischen Kabinette ließen gründliche und umfassende Maßnahmen, wie die Lage sie erfordert hätte, nicht zu. Ein überraschender Angriff von chinesischer Seite nach Westen hin hätte mit den vorhandenen Mitteln nicht lange aufgehalten werden können. Bülow verlangte daher immer wieder, daß wenigstens das Gros der russischen Luftflotte zur Verteidigung der turkestanischen Grenze angesetzt würde.

      Jetzt, nach einem letzten langen Kampf mit dem Obersten Popoff sah er das Vergebliche seiner Bemühungen ein.

      »Meine Meinung von Ihnen, Herr Oberst, ist viel zu hoch, als daß ich annehmen könnte, Sie billigten die Pläne des Hauptquartiers. Ihre Gegenargumente trugen so wenig den Stempel der Überzeugung, daß es eines besseren Beweises für die Richtigkeit meiner Ansicht nicht bedarf. Wenn nicht in kurzer Zeit erhebliche Verstärkungen aus Westeuropa ankommen, stehe ich hier auf einem verlorenen Posten. Gnade Gott den Siedlern und ihrem Land!«

      »Sie sehen zu schwarz, Herr General«, erwiderte der Oberst, indem er seine Verlegenheit nur schlecht verbarg. »Ist es doch noch ganz ungewiß, ob und wann die Gewitterwolke zur Entladung kommt. Übrigens sind, wie mir vor kurzem gemeldet wurde, starke deutsche Truppenmassen vom Ural her im Anfliegen. Darunter viel Spezialtruppen für den Gebirgskrieg.«

      »Natürlich! Deutsche Soldaten allzeit vorneweg!« brummte Bülow vor sich hin.

      »Sichern Sie hauptsächlich das Ilital, Herr General. Für das Irtyschtal können Sie im Falle der Not auf russische Verstärkungen rechnen.«

      »Das Ilital! Sehr schön, Herr Oberst«, entgegnete Bülow in bitterem, sarkastischem Ton. »Ich könnte es, wenn ich mehr Flugschiffe hätte. So werde ich voraussichtlich das Siebenstromland preisgeben müssen.«

      Sein Adjutant trat ein und überbrachte ihm eine Karte. »Georg Isenbrandt« las er. Ging hinaus, um ihn zu empfangen.

      Der streckte ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn.

      »Immer noch die gefurchte Stirn, Herr General?«

      »Man verliert die Lust, Herr Isenbrandt, wenn man immer wieder gegen Unvernunft und Eigennutz anrennt.«

      »Kommen Sie mit mir, Herr General! Zu einem kleinen Gang ins Freie. Vielleicht sehen Sie danach etwas freundlicher aus.«

      »Gern, Herr Isenbrandt. Trotz der sommerlichen Wärme kann es mir draußen auch kaum heißer werden als hier drinnen über der Karte.«

      Sie verließen die Stadt und schlugen den Weg zu einer kleinen Anhöhe ein, von der man nach allen Seiten einen freien Blick hatte. Weithin sichtbar dehnte sich die in voller Frühlingspracht stehende Landschaft vor ihnen aus. Nicht umsonst galt das Siebenstromland als die Riviera Westsibiriens. Lange ruhten die Blicke der beiden auf dem gottgesegneten Flecken Erde da vor ihnen.

      »Wieder war mein Kampf umsonst, Herr Isenbrandt, dieses Paradies vor dem Untergang zu bewahren. Der Russe will keine Vernunft annehmen. Solange es geht, werde ich es zu verteidigen suchen. Aber ich weiß bestimmt, daß ich eines Tages das ganze Gebiet bis zum See hin räumen muß. Bei Telek will ich den Gelben ein Thermopylen errichten. Denn ich glaube nicht, daß ich es länger als eine Woche halten kann. Ist dann nicht genügend europäische Hilfe da, dann werden die gelben Horden über die Leichen der Verteidiger hinwegstürmen. Die Bewohner müßten schon jetzt zur Räumung veranlaßt werden. Man möchte verzweifeln, wenn man daran denkt, daß die russischen Luftstreitkräfte uns das alles ersparen könnten. Vermögen Sie nicht noch einen letzten Schritt zu tun?«

      Er blickte auf und sah, daß Isenbrandt ihm kaum zugehört haben konnte. Dessen Auge hing wie weltverloren an den fernen grauen Kämmen des Gebirges. Minuten verstrichen. Dann fielen die Worte von Isenbrandts Lippen:

      »Nein, Herr General! Nein! Nichts wird von dem geschehen, was Sie befürchten!«

      »Sie sagen? … Herr Isenbrandt! … Was? … Was sollte es verhindern? Haben Sie andere, bessere Nachrichten aus dem Hauptquartier als ich?«

      Isenbrandt schüttelte den Kopf.

      »Nein, Herr General! Mit eigener Kraft, ohne Hilfe der andern werden wir das Land schützen und den Feind abwehren.«

      Georg Isenbrandt sprach nicht

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