Скачать книгу

Schulter. Ihr stockte der Atem und sie war einen Moment lang starr vor Schreck. Bevor sie reagieren konnte, hörte sie dieses leise, wie aus der Ferne kommende Krächzen erneut in ihrem Ohr. Dann war es, irgendetwas, in ihrem Kopf und die Welt um sie herum versank in einem Nebel, der ungleich dunkler und dichter war als der, welcher an diesem Morgen über der jungen Stadt hing.

      Ihr Blickfeld kehrte einen Wimpernschlag später zurück, doch war es an den Rändern unscharf und alles wirkte verschwommen. Sie sah ihren Bruder, der blutüberströmt zusammenbrach, praktisch geschlachtet wurde von drei Gestalten, die sie nicht erkennen konnte. Sie erhob sich in die Luft und flog zu einem hochgelegenen Fenster hinaus in das schimmernde Halbdunkel, das ihr so schmerzlich vertraut war und das sie niemals wiedersehen würde. Einige Flügelschläge später befand sie sich unter der Decke der großen Grotte, viele Mannslängen in der Höhe, und schaute hinab auf das, was für über drei Dekaden ihre Heimat gewesen war. Jetzt bot es ein Bild des Grauens.

      Sie sah, wie sich die Felsen bewegten, mit denen man die Tore zu den äußeren Bereichen abgeriegelt hatte. Die zum Einsturz gebrachten Durchgänge brachen unter der Gewalt des Drucks der Angreifer erneut auf und ergossen eine Flut aus Feinden in die Grotte. Zum ersten Mal seit achtzig Generationen erreichten die Schattenfresser das Herz der Heimat der Vannbarn. Damals war es laut den Aufzeichnungen nur eine Handvoll gewesen. Jetzt zählten sie tausende. Chatikka kreiste langsam unter der Decke der großen Grotte. Sie sah, wie das Westtor wenige Augenblicke vor dem Nordtor aufbrach und Bestien aus den Löchern hervorquollen wie Eiter aus einer schwärenden Wunde.

      Menschenähnliche Rümpfe mit kurzen Beinen und überlangen Armen, gedrungen, breit, mit dickem, pechschwarzem Fell bedeckt. Vom Hals an aufwärts ein Horror aus glühenden Augen, Fell und Zähnen. Die hohe Wächterin hatte unzählige der Monstren erschlagen und war mehr als ein halbes Dutzend Mal von ihnen verletzt worden. Die Zahl ihrer Schnitte und Prellungen, die von den Hieben des alten Feindes gegen ihren gerüsteten Körper stammten, war so unzählbar wie die Masse, die nun in die Grotte hereinbrach. Ihr ganzes Leben war dem Kampf gegen dieses Übel gewidmet gewesen, und nun sah sie, wie die Schattenfresser ihre Brüder und Schwestern abschlachteten wie Tunnelratten. Sie wusste nicht, wo die Seegarde war, sah nur vereinzelte Wachen, die gegen die Überzahl fielen wie Halme im Wind. Vermutlich hatten sie bereits in den Tunneln bis zum Letzten gekämpft und waren gefallen.

      Ihre Augen, die ebenso wenig die ihren waren wie die Schwingen, welche sie in der Luft hielten, waren erbarmungslos. Sie blinzelten nicht, schlossen sich nie und sie wandten sich auch nicht ab, wie sie es gerne getan hätte. Hilflos sah sie minutenlang zu, wie die schwarzen, zottigen Monster über ihr Volk herfielen. Vereinzelter Widerstand durch bewaffnete Männer und Frauen, die sich den Angreifern einzeln oder in Gruppen entgegenstellten, wurde binnen weniger Augenblicke einfach überrannt. Die Bestien kämpften, wie Chatikka es von ihnen gewohnt war. Ohne Taktik oder Plan, dafür mit rasender, wahnsinniger Wildheit und brutaler Kraft. Angst oder Schmerzen schienen ihnen völlig fremd zu sein. Falls sie die Letzteren überhaupt spürten, wurden sie davon nur noch weiter angestachelt. Keine Furcht vor dem Tod, kein Bewusstsein für den Wert der eigenen Existenz, getrieben nur von Blutdurst und Hunger.

      Diesen Feind hatte sie mit ihrer Seegarde jahrzehntelang in den räumlich begrenzten Schlachtfeldern bekämpft, welche die Tunnelsysteme ihres Volkes darstellten. Auf engem Raum konnte man einem solchen Gegner mit Disziplin und Mut standhalten. Was dort auf dem offen Feld der großen Grotte unter ihr geschah, war nichts als ein Gemetzel. Der Muttersee färbte sich bereits rot vom Blut der Vannbarn, als die Schattenfresser die steinernen Treppen zu den Wohngebieten erreichten, welche im Laufe von über hundert Generationen in den Berg geschlagen worden waren.

      Wie eine Welle aus zottigem schwarzen Tod quollen die Bestien die Stufen hinauf und bald konnte Chatikka die Schreie von Frauen und Kindern hören. Die letzten verzweifelten Kämpfe wurden von Müttern geführt, die doch nicht mehr vermochten, als ihren Kindern wenige Atemzüge zu erkaufen. Dann wurden auch sie in Stücke gerissen. Am Ende, endlich, schlug der Körper, der nicht der ihre war, kräftiger mit den Flügeln. Sie erhob sich weiter zur Decke der Grotte, die nun ein Meer aus Blut und Tod überspannte, und fand schließlich einen Spalt, in dem sie verschwand.

      Als der Rabe von ihrer Schulter flog und somit der Nebel seiner Erinnerung von ihr schwand, war sie auf der Straße in die Knie gebrochen. Die Mischung aus Ekel vor der Vergewaltigung ihres Geistes durch das gefiederte Geschöpf und die Trauer und das Entsetzen über das Gesehene traf sie schwerer als jeder Hieb einer Waffe. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit, die dem folgte, drohten sie zu zerreißen. Das Rabending, das seinen Dienst getan hatte, war daraufhin davongeflogen. Sie hatte es, wenigstens dafür war sie dankbar, nicht wiedergesehen. Wohin es verschwunden war, wusste sie nicht und es war ihr auch gleichgültig. Mochte es den Zauberer suchen und ihm die Botschaft bringen oder mochte es in der Hölle verschwinden, aus der es vermutlich stammte. Sie hatte Garawan sofort hinzugezogen und am Nachmittag einen Brief an den Jarl av Ulfrskógr geschrieben.

      Sie hatte ihn nicht korrekturgelesen, bevor sie ihn mit einer Brieftaube gen Osten geschickt hatte. Sie konnte nur hoffen, nicht zu viel von ihrer Verzweiflung in die Zeilen gelegt zu haben. Sie wollte nicht, dass es wie ein Hilfeschrei klang, aber es war unabdingbar, ihrem Lehnsherren von der möglichen Gefahr zu berichten, die unter dem Berg heranreifen mochte. Wer konnte schon wissen, was die Schattenfresser taten, wenn sie mit ihrem Volk fertig waren.

      Der einzige Lichtblick dieser Tage war die Gruppe Siedler gewesen, einige Zeit nach dem Besuch des unheiligen geflügelten Boten eingetroffen war. Es erschien ihr wie ein letztes Geschenk ihres Bruders. Es waren nicht nur einige Dutzend Mitglieder der Seegarde und eine Abordnung von Druiden unter diesen Menschen, sondern auch viele Frauen und Kinder. Die sechshundert Kinder waren die Ersten, die in der neuen Heimat eintrafen, und sie stellten nun die letzte Hoffnung für ihr Überleben dar. Insgesamt lebten nun über fünftausend Vannbarn in Nemunadej, der einzigen Bastion ihres Volkes. So, wie sie die Stadt angelegt hatten, würden doppelt so viele Menschen problemlos in ihrem Schutz Platz finden. Das Köttsten gedieh so gut, wie man es nur erwarten konnte. Ihre Verluste waren furchtbar, doch hatten sie überlebt und noch bestand Hoffnung. Für sich betrachtet war ihre Lage hier sogar außerordentlich gut. Sie hatten Nahrung, Schutz und verfügten über mehr Ressourcen, als sie brauchten.

      Es gelang ihr nur mit Mühe, die Gedanken an die unheilige Vision zu verdrängen, die das Rabending ihr aufgezwungen hatte. Sie vermochte nicht zu sagen, ob die Fantasie ihr schlimmere Bilder in den Kopf gepflanzt hätte, wenn sie nur eine einfache Nachricht über die Geschehnisse unter dem Berg erhalten hätte. Einerseits war Gewissheit stets tröstlicher als vager, nagender Zweifel. Andererseits waren nun die bewegten Bilder unauslöschlich in ihrem Gedächtnis eingebrannt, wie die Menschen, die sie zeit ihres Lebens geschützt hatte, von dem alten Feind abgeschlachtet worden waren.

      Sie fühlte nach wie vor eine unbestimmte Taubheit, von der sie nicht wusste, ob sie dagegen ankämpfen oder sie willkommen heißen sollte. Einerseits schwächte dieses Gefühl wohlmöglich ihr Urteilsvermögen, was gefährlich war. Auf der anderen Seite mochte es der letzte Schutz sein, der sie vor einem Zusammenbruch bewahrte. Und sie konnte es sich jetzt weniger denn je leisten, zusammenzubrechen.

      Alle Vannbarn befanden sich in einem Schockzustand. Garawan und sie hatten nur kurz mit dem Gedanken gespielt, den Menschen die Wahrheit über das Schicksal ihrer Heimat für eine Weile vorzuenthalten. Es spielte keine Rolle, wann der Schock über die Katastrophe sie traf. In gewisser Weise war es jetzt, wo der Winter seine Krallen in das Land schlug, der bestmögliche Zeitpunkt. Wenn es für so etwas einen solchen gab. Wenn das Land im kommenden Frühjahr aus seinem frostigen Winterschlaf erwachte, gab es für jeden Mann und jede Frau mehr als genug zu tun. Die Monate, in denen Schnee und Eis die Menschen zumeist zur Untätigkeit verurteilten, konnten zum Begreifen, zur Trauer und zur Neuorientierung dienen.

      Das sollten sie für dich auch tun, bevor du völlig in Verzweiflung versinkst, dachte Chatikka grimmig. Kaum jemandem würde es schwerer fallen als ihr, sich vom Alten zu lösen. Das Neue beinhaltete für sie so viel Verantwortung und Ungewissheit, dass ein Teil von ihr schreiend davonlaufen wollte. Die neue Situation schien diesen Zustand nicht zu verbessern. Ein anderer Teil flüsterte ihr zu, dass bei aller Trauer ein großer Teil der Sorgen von ihren Schultern genommen war. Sie war zunächst empört über diesen Gedanken, sah

Скачать книгу